Nachtflug
ich bitte Sie, beruhigen Sie sich! Es kommt so häufig vor in unserem Beruf, daß man lange auf Nachrichten warten muß.«
Er war in seinem Denken bis an jene Grenze gelangt, wo sich die Frage - nicht nach einem kleinen privaten Weh, sondern nach dem Sinn der Tat, der Aktivität selber erhebt. Es war für ihn nicht die Frau Fabiens, die ihm gegenüberstand, sondern eine andere Lebensauffassung. Er konnte nichts tun als sie anhören, sie bemitleiden, diese kleine Stimme, diesen so traurigen, aber feindlichen Laut; denn weder die Welt der Tat noch die Welt persönlichen Glückes können sich auf Teilung einlassen, sondern stehen im Widerstreit. Auch diese Frau sprach im Namen einer absoluten Welt und ihrer Rechte und Pflichten: Welt freundlichen Lampenscheins über abendlichem Tisch, Welt eines Körpers von Fleisch und Blut, der Anspruch erhebt auf den andern, geliebten Körper, Heimatbereich von Hoffnungen, Zärtlichkeiten, Erinnerungen. Sie forderte ihr Wohlergehen, und sie hatte recht. Und auch er, Riviere, hatte recht, aber er vermochte dem, was für diese Frau Geltung hatte, nichts entgegenzusetzen. Seine Wahrheit schien ihm unmenschlich und nicht in Worte zu fassen angesichts dieses kleinen häuslichen Glücksanspruchs.
»Gnädige Frau …«
Sie hörte nicht mehr. Ihm war, als wäre sie plötzlich hingesunken, fast wie zu seinen Füßen, nachdem sie mit ihren schwachen Fäusten vergebens gegen die Mauer geschlagen.
Ein Ingenieur hatte einmal zu Riviere gesagt, als sie sich über einen Verwundeten beugten, der beim Bau einer Brücke verunglückt war: »Ist die Brücke da ein zerstörtes Gesicht wert?« Nicht einer von den Landbewohnern, für die diese neue Straße sich öffnete, wäre bereit gewesen, ein menschliches Gesicht zu verstümmeln, nur um sich den Umweg über die nächste Brücke zu ersparen. Und trotzdem baute man Brücken. »Das allgemeine Interesse«, hatte der Ingenieur hinzugefügt, »ist nur die Summe der Einzelinteressen: darüber hinaus berechtigt es zu nichts.« - »Und dennoch«, hatte Riviere ihm später erwidert, »obwohl das Menschenleben unbezahlbar ist, handeln wir immer wieder so, als ob es etwas gäbe, das das Menschenleben an Wert übertriffi … Aber was?«
Das Herz preßte sich ihm zusammen, wenn er an die beiden Männer da oben dachte. Die Tat, die Leistung - schon ein ganz alltäglicher Brückenbau - forderten Opfer an Glück. ›Im Namen wessen?‹ fragte Riviere sich immer dringlicher. ›Diese zwei Menschen‹, dachte er, ›die vielleicht schon heute aus der Welt verschwinden werden, hätten glücklich leben können.‹ Er sah Gesichter, in die goldene Geborgenheit des Lampenscheins gesenkt. Im Namen wessen habe ich sie herausgerissen? Im Namen wessen sie ihrem privaten Glück entzogen? Ist es nicht erstes Gesetz, solches Glück zu behüten? - Und dennoch: eines Tages, unvermeidlich, schwinden diese goldenen Glücksbereiche ohnedies dahin wie Luftspiegelungen. Alter und Tod zerstören sie unbarmherziger als ich. Vielleicht gibt es etwas anderes, Dauerhafteres, das es zu bewahren gilt? Vielleicht ist es dieses Teil des Menschen, um dessentwillen ich arbeite? Andernfalls ist die Arbeit nicht gerechtfertigt.
›Lieben, nur lieben - was für eine Sackgasse!‹ Riviere hatte die dunkle Empfindung von einer Pflicht, höher als Liebe. Oder vielleicht handelte es sich auch dabei um ein Liebesgefühl, nur so ganz anderer Art. Ein Satz kam ihm in den Sinn: »Es handelt sich darum, sie unsterblich zu machen .« Wo hatte er das gelesen? »Was man für sich selber erstrebt, stirbt.« Das Bild eines Tempels kam ihm in den Sinn. Tempel des Sonnengottes der alten Inkas von Peru. Diese steilen Blöcke hoch im Gebirg. Was wäre ohne sie verblieben von einer Kultur, so machtvoll, daß selbst ihre Trümmer noch wie ein Vorwurf lasteten auf den Menschen von heute? ›Im Namen welcher Härte oder welcher seltsamen Liebe zwang der Führer der Völker von einst seine Massen dazu, diesen Tempel ins Gebirge hinaufzuschleppen und ihre eigene Unvergänglichkeit hier aufzurichten?‹ Er sah träumend wieder die Menge in den Kleinstädten vor sich, die abends um ihren Musikpavillon kreist: Die Art Glück‹, dachte er, ›dieses Karussell …‹ Der Führer der Völker von einst - wenn er auch vielleicht kein Mitleid hatte mit dem Leiden des Menschen, so hatte er doch unendliches Mitleid mit seinem Tode. Nicht mit dem Tode des einzelnen, aber Mitleid mit der Gattung und ihrem Dahinschwinden in einem
Weitere Kostenlose Bücher