Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
richtige Ort zum Flanieren oder gar zum Tagträumen. Der Morgen ist eine geschäftige Zeit, und diese Lieferanten fahren wie die Teufel.« Der ältere Herr, der Adam so umsichtig zurückgerissen hatte, damit er nicht unter die Hufe des Kutschpferdes geriet, strich sich über seinen grau melierten Bart. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie sich zurückziehen würden. Sie sehen etwas derangiert aus.«
»Rue Mouffetard?«, wiederholte Adam in der Hoffnung, sein Gedächtnis möge endlich wieder funktionieren.
Doch in diesem Augenblick meldete sich unvermittelt jener unwiderstehliche Instinkt, der bereits auf das blutbeschmierte Einstecktuch mit solcher Vehemenz reagiert hatte. Der Auslöser war ein rhythmisches Schlagen, das alle anderen Geräusche übertönte.
Adam sah sich suchend um.
An der Seite des Herrn stand eine junge Frau, vielleicht seine Tochter. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und gab vor, mit großem Interesse die Auslagen eines Blumenstandes zu betrachten. Alles, was Adam von einem Moment zum nächsten wahrnahm, war die leichte Drehung ihres Halses, wodurch der Pulsschlag unter ihrer gespannten Haut sichtbar wurde.
Für einige Atemzüge gab es nur noch das ohrenbetäubende Schlagen ihres Herzens.
Beruhige dich. Das hier ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt für ein Opfer. Außerdem gefällt sie mir nicht.
Adam fuhr beim Klang der Stimme zusammen. So plötzlich, wie seine Sinne sich übersteigert hatten, so schnell verflog dieser Eindruck auch wieder. Zurück blieb nur ein Kribbeln in den Fingerspitzen, die sich fast auf den Hals der jungen Frau gelegt hätten. Zwar mochte er die Stimme verwünschen, aber soeben hatte sie ihn zweifelsohne vor einer Dummheit bewahrt.
Als der ältere Herr sich mit einem Nicken und einem äußerst beklommenen Ausdruck zum Gehen abwandte, brachte Adam gerade noch ein »Danke« hervor. Seine Zunge formte das Wort mühelos, trotzdem konnte er sich desVerdachts nicht erwehren, eigentlich auf eine andere Sprache zurückgreifen zu müssen. Dann lief er los, getrieben von dem Bedürfnis, möglichst viel Abstand zwischen sich und den unwiderstehlich schlagenden Puls dieser Frau zu bringen.
Etwas stimmte nicht mit ihm - ungeachtet der Tatsache, dass er nicht wusste, wer er war, und dass eine körperlose Stimme zu ihm sprach. Nein, etwas war grundlegend verkehrt, so verhielt sich kein Mensch, schlicht aus dem Grund, weil kein menschliches Wesen über solche empfindlichen Sinne verfügte.
Geschickt bahnte Adam sich einen Weg durch die belebten Straßen: Dienstmägde mit beladenen Körben in ihren
Armbeugen, Gruppen von plaudernden Männern mit Schnauzern, Bärten und Pfeifen im Mund, und Kinder, die sich die Zeit mit Hüpfspielen auf den quadratischen Pflastersteinen vertrieben. Erstaunlich leichtfüßig umschiffte er Waren, die die Ladenbesitzer auf dem Gehweg aufgebaut hatten, und wich der Schnauze eines Straßenköters aus, der nach seiner Ferse schnappte. Erst als er das Gefühl hatte, sich wieder unter Kontrolle zu haben und auch die Fährte der jungen Frau nicht mehr auszumachen war, verlangsamte er seinen Schritt. Zu seiner eigenen Verwunderung war er trotz seines raschen Gangs nicht außer Atem gekommen, auch auf seinen Wangen spürte er keine Erhitzung. Das Laufen hatte ihm keine nennenswerte Anstrengung abverlangt.
Adam blieb vor einem Möbelladen mit großen Schaufenstern stehen und wagte einen Blick auf sein Spiegelbild. Unvermittelt setzte er einen Schritt zurück und blinzelte im festen Glauben, dass die Scheibe ihm einen Streich spielte. Zu seinem Entsetzen starrte ihm ein Fremder entgegen. Denn dieses durch die Spiegelung leicht unscharfe Gesicht konnte unmöglich ihm gehören! Es war ihm so unbekannt wie jedes beliebig andere, dem er bislang auf der Straße begegnet war.
Vorsichtig, als befürchtete er, sich zu verbrennen, tastete er nach seiner Wange. Dabei beobachtete er, wie sein Gegenüber die Bewegung exakt nachahmte. In dem Moment, als er seine Finger auf seinem Gesicht spürte, berührte auch das Spiegelbild die Wange des Fremden.
Schlagartig erfüllte Adam das Verlangen, die Scheibe mit der Faust einzuschlagen, zuzusehen, wie das Lügenbild in tausend Scherben zersprang. Und dann würde er flüchten, bevor er in einem der Bruchstücke erneut dieses unbekannte Gesicht entdeckte, das nun seins sein sollte. Doch trotz des Sturms in seinem Inneren gelang es ihm, sich zu beherrschen. Die Hände zu Fäusten geballt, stand er da und
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