Nachtjaeger
lief nach, die Küchenschränke knarzten, und die Wände waren so dünn wie Papier. Sie wusste inzwischen genau über die Probleme ihrer Nachbarn Bescheid.
Dennoch mochte sie es hier. Es war ihr Zuhause – ein Heim, das sie dringend benötigt hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war.
Der frühe Tod ihrer Mutter war kein Schock gewesen. Niemand überlebte lange, wenn er so viel Alkohol trank, wie sie das getan hatte. Aber ihr Tod hatte Jenna im Alter von achtzehn Jahren allein zurückgelassen. Sie hatte niemanden, keine Freunde, keine Familie. Nachdem ihr Vater verschwunden war, als sie zehn war, hatte ihre Mutter sich strikt geweigert, auch nur seinen Namen auszusprechen.
Jenna konnte sich nur noch vage an ihn erinnern. Er war groß und dunkel gewesen, attraktiv, ernst, geheimnisvoll. Vor allem die Erinnerung an seinen Geruch hatte sich ihr eingebrannt. Ganz gleich, zu welcher Tageszeit– er hatte stets den kühlen Duft der Nacht auf der Haut getragen.
Ihre Mutter hatte keine Geschwister gehabt, und ihre Großeltern waren schon lange tot … Es gab niemanden mehr.
College stand nicht zur Debatte. Ihre Mutter hatte ihr kein Geld hinterlassen, nichts außer einem verschuldeten kleinen Bungalow im Valley und einigen Schmuckstücken und Möbeln, die sie in einem Trödelladen erworben hatte. Jenna verkaufte alles und nutzte das wenige Geld, das ihr blieb, als Kaution für das Apartment, in dem sie jetzt lebte. Sie hatte sich nicht unterkriegen lassen, und sie wusste, dass sie alleine überleben würde. Nach dem Chaos ihrer Kindheit und all den unbeantworteten Fragen, warum sie so anders war, gab es nichts, vor dem sie sich gestattete, Angst zu haben.
Außer vielleicht vor dem, was heute passiert war. Worüber sie aber nicht mehr nachdenken wollte.
»Hallo, Jenna! Ich bin es, deine gute Fee!«
Jenna lächelte und öffnete die Augen, als sie die trällernde Stimme ihrer Nachbarin Mrs. Colfax hörte, die durch die offene Terrassentür zu ihr herein rief.
»Hier bin ich!«, erwiderte Jenna und stemmte sich aus der Badewanne. Seifenblasen glitten träge ihren nackten Körper hinunter. Sie stellte das Glas mit Champagner auf der Marmorplatte ab und wickelte sich in ein weißes, dickes Frotteehandtuch.
Es wurde zweimal an die Badezimmertür geklopft, und dann zeigte sich der elegant frisierte blonde Kopf von Mrs. Colfax in der Tür.
»Du nimmst ein Bad? Bei der Hitze? Meine Liebe, bist du verrückt?«, fragte Mrs. Colfax und zog eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen nach oben.
In ihrer Jugend war sie eine Schauspielerin gewesen, die sich als schön, aber nicht sonderlich talentiert erwiesen hatte. Noch jetzt konnte man die Sprecherziehung und das Melodramatische in ihrer Stimme erkennen.
»So genau lässt sich das nicht sagen«, erwiderte Jenna. Sie zeigte auf den Champagner. »Aber ich habe Kopfweh und dachte, dass ein Bad und etwas Champagner helfen könnten.«
»Ah, verstehe«, sagte Mrs. Colfax und öffnete die Tür ganz, um das Badezimmer ganz mit ihrer überbordenden Persönlichkeit zu erfüllen.
Sie trug eines ihrer typischen Chanel-Kostüme – diesmal in Taubenblau –, Valentino-Pumps, eine doppelte Perlenkette sowie ein französisches Parfüm, das nach seltenen Orchideen und Sex roch und dreihundert Dollar die Flasche kostete. Sie hatte eine Reihe reicher Männer verführt, geheiratet und sich dann scheiden lassen. Stets war es ihr gelungen, das Beste aus den Kerlen und ihrem Geld zu machen. Sie wohnte in einer großen, modernen Villa neben Jenna, deren winziger Apartmentkomplex daneben wie ein Spielzeughaus aussah.
»Champagner wirkt wahre Wunder, wenn man ihn braucht. Sowohl für das Glück als auch für die Gesundheit«, meinte Mrs. Colfax. »Es freut mich zu sehen, dass dir allmählich auch etwas anderes schmeckt als die schreckliche Milch, die du so gerne trinkst.«
Jenna nahm sich ein weiteres Handtuch, um es sich um den Kopf zu wickeln. »Dir ist schon klar, dass es einen Grund gibt, dass Milch als gesund gilt, oder? Außerdem ist sie günstiger als Champagner. Vor allem als der, den du trinkst.«
»Geld für französischen Champagner zu haben ist wesentlich wichtiger als Geld für die Miete. Das solltest du nicht vergessen, meine Liebe«, gab Mrs. Colfax zurück. »Übrigens habe ich von Boa ein Filet zum Abendessen bestellt, meine Gute. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. An deinem Geburtstag nächstes Wochenende werde ich in New York sein und dachte, dass wir heute Abend schon
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