Nachtjaeger
blieben, und sie waren es, die ihn vorwärtstrieben.
Es gab nichts, was er in solchen Momenten mitnehmen konnte. Weder Kleidung, noch Waffen, noch Essen. Alles, was er trug oder in Händen hielt, fiel einfach zu Boden. Das hatte sich schon mehr als einmal als unbequem herausgestellt. Doch an diesem Abend dachte er nicht daran. Er dachte weder an den Rat noch an sein Gesetz, weder an Christian, Morgan oder die Aufgabe, die vor ihnen lag.
Er dachte nur an die Freiheit und ließ sich in die Wärme des indigoblauen Himmels treiben.
3
Der Champagner half nicht wirklich, ihr Kopfweh zu vertreiben. Auch wenn es sich um einen edlen 1996er Louis Roederer handelte.
Der feine Geschmack von Mandeln, Haselnüssen und weißen Blüten umfing beim ersten Schluck ihre Geschmacksnerven, um dann von einer cremig seidenen Note abgelöst zu werden, die an die sündige Dekadenz einer buttrigen Brioche erinnerte. Eine Mischung aus Stroh, Zitrus, hellem Toast und Mais mit Butter traf ihren Gaumen, sodass sie vor Vergnügen beinahe aufstöhnte.
Das ist wie ein Orgasmus für die Zunge, dachte Jenna, während sie schluckte.
Der Champagner kostete mehr als vierhundert Dollar pro Flasche.
Es war ein Geschenk ihrer dreimal geschiedenen Nachbarin, Mrs. Colfax. Sie waren mehr als bloße Bekannte, wenn auch nicht echte Freunde, da keine der beiden jemals persönliche Dinge über sich erzählte. Genau das gefiel ihnen auch an ihrer Bekanntschaft. Jenna vermutete, dass Mrs. Colfax so manche Leiche im Keller hatte, von der sie lieber nicht sprach. Aber das war kein Problem.
Sie betrachtete die sinnlich blassgoldene Flüssigkeit, die sie in dem eleganten Waterford-Glas schwenkte – ein weiteres Geschenk von Mrs. Colfax –, ehe sie frustriert aufseufzte.
Was heute geschehen war, war auf unheimliche Weise ausgesprochen verstörend gewesen, obwohl sie sich inzwischen fast selbst davon überzeugt hatte, das Ganze nur fantasiert zu haben. Das Schaumbad half, wenn auch nur, um die angespannten Muskeln in ihrem Nacken wieder zu lockern. Mental blieb sie so nervös wie zuvor, und auch ihre Haut schien noch immer unter Strom zu stehen.
Ein Strom, der jedes Mal stärker wurde, wenn sie sich gestattete, an ihn zu denken.
Dennoch schaffte sie es nicht, sein Bild vor ihrem inneren Auge ganz zu verdrängen. Das Bild dieses Fremden mit den schimmernden schwarzen Haaren, dem Gesicht eines Engels von Botticelli und den Augen eines hungrigen Wolfs.
Etwas an ihm kam ihr so vertraut vor. Obwohl sie nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen hatte, ehe sie das Bewusstsein verlor, hatte sie doch etwas unter ihrer Haut gespürt, als würde ein verborgenes Raubtier Muskeln und Sehnen unter seinem Blick anspannen, um dann an die Oberfläche zu kommen.
Genau in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, hatte sie sich gefühlt wie ein Tier, das erwachte …
Jenna streckte die Beine aus und krümmte die Zehen über den Badewannenrand, ehe sie tief Luft holte und die Augen schloss. Sie blendete das von Kerzenlicht erleuchtete Badezimmer mit seinem Schminktisch und der Marmorablage sowie der Duschkabine völlig aus. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an sein Gesicht loszuwerden, das noch immer leuchtend wie ein Stern vor ihr stand.
Er war nur ein Fremder auf der Straße gewesen. Die seltsame elektrische Spannung konnte nicht von ihm stammen. Hatte sie vielleicht einen Hitzschlag erlitten? Sie kaute auf der Unterlippe und überlegte. Die Symptome wären die gleichen gewesen: Schwindel, ein heftig pochendes Herz, Schweißausbrüche, Ohnmacht.
Doch Hitze machte ihr normalerweise nichts aus. Sie wurde nie krank oder fiel in Ohnmacht oder fühlte sich schwindlig. Sie hatte bisher noch nicht einmal ein Loch in einem Zahn gehabt, verdammt noch mal!
Also tat sie das, was sie immer tat, wenn sie etwas nicht verstand: Sie schob es beiseite. Langsam glitt sie tiefer in das warme, duftende Wasser und überlegte stattdessen, wo sie von jetzt an ihre Lebensmittel besorgen wollte.
Das Bad war das einzige Zimmer in ihrem winzigen Apartment, in das sie etwas Geld investiert hatte. Und sie hatte es nie bereut. Nur die Rohrleitungen, dachte sie, als etwas kaltes Wasser aus dem Hahn über ihren linken Zeh floss. Sie musste mit Saul dringend über die Leitungen sprechen.
Das Gebäude war etwas über fünfzig Jahre alt und in einem schlecht nachgeahmten Art-déco-Stil gebaut. Ihr Vermieter Saul nannte das den »Charakter« des Hauses. Die Wasserhähne tropften, die Toilette
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