Nachtjaeger
Grimasse und drehte das Wasser in der Dusche auf. Dann beugte sie sich unter das Waschbecken, um ihre Bürste herauszuholen, damit sie einige der Knoten aus ihren Haaren herausbekommen konnte, während das Wasser heiß wurde.
Als sie das Schränkchen unter dem Waschbecken öffnete, stellte sie fest, dass ihr Make-Up-Täschchen von seinem üblichen Platz in einem kleinen Drahtkorb beiseitegeschoben worden war. Auch die Cremes und Parfümflaschen daneben wirkten so, als hätte jemand sie bewegt.
Jenna richtete sich so rasch auf, dass sie beinahe mit dem Kopf gegen das Waschbecken gestoßen wäre.
Sie war geradezu zwanghaft ordentlich. In einem Apartment, das so winzig war wie das ihre, blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Alles hatte seinen Platz, jeder Raum war genau aufgeteilt, um ihn so effizient wie möglich zu nutzen. Ihre Kosmetikartikel waren stets perfekt geordnet.
Jetzt nicht mehr.
Sie versuchte, nicht in Panik auszubrechen. Im Grunde war es nichts. Vermutlich hatte sie nur vergessen, gestern noch einmal alles aufzuräumen. Sie war so müde, so erschöpft gewesen. Ja, das musste es sein. Sie hatte sich unwohl gefühlt und verwechselte jetzt wahrscheinlich ein paar Dinge. Langsam ließ sie die Tür des Schränkchens zufallen und stellte sich unter die Dusche.
Nachdem sich Jenna angezogen hatte, kochte sie sich einen Kaffee. Während sie in der Küche das Kaffeepulver in einen Filter löffelte, fiel ihr auf, dass eines ihrer ledergebundenen Fotoalben, die sie auf einem Regal im Wohnzimmer aufbewahrte, einige Zentimeter weiter herausragte als die anderen – als ob man es hastig wieder zurückgestellt hatte, aber nicht mehr dazu gekommen war, es vernünftig zu verstauen.
Eine böse Vorahnung kroch ihr wie eine Schlange über den Rücken.
Sie lief zur Wohnungstür und kontrollierte, ob sie verriegelt war. Aber es war alles in bester Ordnung. Auch die Fenster und die Terrassentür waren verschlossen.
Jenna stand für einen langen Moment im Wohnzimmer und schaute auf den Ozean und den Strand hinaus. Sie war derart in Gedanken versunken, dass sie den Kaffee kalt werden ließ.
Es war kein Problem gewesen, in ihr Apartment zu gelangen, obwohl es abgeschlossen war.
Leander war einfach durch die haarfeine Ritze in der oberen Ecke des Badezimmerfensters eingedrungen – jene Ritze, die ihr erst auffallen würde, wenn sie groß genug war, um von einem Auge wahrgenommen zu werden.
Wesentlich schwieriger war es gewesen, ihr beim Schlafen zuzusehen.
Sie schlief mit der unschuldigen Hingabe eines Kindes. Sie atmete tief und ruhig, ihr Körper lag in der Mitte des Doppelbetts, die Arme waren weit ausgebreitet und ihre Haare hatten sich wie ein goldener Wasserfall über die Kissen ergossen. Der Mond tauchte ihren schlanken Hals und die nackten Schultern in ein weißes Licht.
Er beobachtete sie aus der Ecke ihres dunklen Schlafzimmers, während sich seine Brust langsam hob und senkte. Ihr nackter Körper zeichnete sich unter den Laken ab.
Er hatte sich bereits in ihrem Apartment umgesehen und nach Hinweisen gesucht. Nach irgendetwas, das zeigte, dass sie tatsächlich eine der Gaben ihrer Spezies besaß.
Bisher hatte er nichts entdecken können.
Sie mochte Kunst und Musik und liebte es anscheinend zu lesen. Das war mehr als eindeutig. Ihre Bücher, ihre große CD -Sammlung, die abgerissenen Eintrittskarten zu einer Molière-Ausstellung im Getty Museum. Rechnungen von einem französischen Restaurant, Postwurfsendungen in einer Korbablage neben dem Telefon in der Küche. Speisekarten in einer Schublade. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Geliebten, keine Fotos von Freunden, kein Hinweis, dass sie irgendjemandem nahestand. In ihren Fotoalben befanden sich nur alte Bilder ihrer Mutter, von ihr selbst als Kind und von Orten, die sie besucht hatte. Dazwischen lagen einige Postkarten.
Ihr ordentliches, ja geradezu steriles Apartment verwies auf ein Leben, das von Einsamkeit geprägt war.
Als Leander sich verwandelt hatte, war er zuerst nicht auf die Idee gekommen, sie zu besuchen. Er hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen, sondern ließ sich nur von der warmen Nachtluft nach oben tragen und die Veranda des Four Seasons weit hinter sich. Die Lichter und Geräusche der Stadt rückten in immer weitere Ferne, während er sich in der Atmosphäre fast auflöste. Er wirbelte und schlingerte durch feine, saphirblaue Wolken und überließ sich dem Spielen des Windes.
Er kannte ihren Namen und ihre Adresse. Er hatte auch
Weitere Kostenlose Bücher