Nachtklinge: Roman (German Edition)
hinzu. »Aber nun gut, wir beide.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«
»Entweder er weiß nichts davon oder er weiß es, hat aber Alexa noch nichts erzählt. In jedem Fall folgt daraus, dass er nicht unbedingt auf der Seite der Dogaressa steht, wie wir dachten. Außerdem«, Dr. Crow wog sorgfältig seine Worte ab, »hat er besondere Talente und ist weit mehr als nur ein gedungener Mörder. Ich habe ihn während seiner Ausbildung beobachtet, Ihr erinnert Euch?«
»Er zieht ein Gesicht, als sei er der Lustknabe eines maurischen Händlers.«
»Durchlaucht, hier geht es nicht um Äußerlichkeiten. Obwohl er aussieht wie ein Engel, ist er ein geborener Mörder.«
»Soll das heißen, Ihr weigert Euch, ihn zu töten?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt könnte.«
Der Regent verstummte, als schwere Schritte auf dem Flur ertönten. Die Wachen stießen ihre Hellebarden auf den Marmorboden und kreuzten sie mit einem Klirren, wie es die Tradition verlangte. Der Besucher, offenbar berechtigt, auch während einer Privataudienz in die Gemächer des Regenten einzutreten, rauschte mitsamt Gefolge herein.
»Wir haben ein Problem«, erklärte Alexa ohne Umschweife.
Der Regent sperrte vor Erstaunen den Mund auf. Es war noch nie vorgekommen, dass Alexa seine privaten Arbeitsräume aufsuchte, anstatt einen neutralen Treffpunkt zu vereinbaren.
»Was für ein Problem?«
»Meine Spione haben berichtet, dass Sigismund eine Heirat zwischen Giulietta und Frederick zum Bas Friedland, dem Halbbruder Leopolds, vorschlagen wird.«
»Frederick?«
Alexa nickte. »Der Kaiser wird ihn zu seinem Nachfolger und kaiserlichen Prinzen ernennen und Giuliettas Sohn als seinen Enkel anerkennen. Dadurch will er Venedig und sein Reich miteinander verbinden.«
Alonzo ärgerte sich, dass Alexas Spione besser informiert waren als seine eigenen, doch er ließ sich nichts davon anmerken. Beide Regenten wussten, wie erpicht Deutschland und Byzanz auf Venedig und seine Kolonien waren.
Mailand, Genua und Florenz? Ihnen wäre Venedig im Kriegsfall überlegen. Wenn Philosophen über den Reichtum italienischer Stadtrepubliken schrieben, war damit stets Venedig gemeint. Die Städte auf dem Festland waren nur ein schwacher Abglanz der mächtigen Serenissima.
Bei Byzanz und Deutschland handelte es sich um gefährlichere Gegner.
Man musste sie hofieren. Der Khan der Khans mochte zwar mit Alexa verwandt sein, aber Tamerlan befand sich am anderen Ende der Welt und war vollauf damit beschäftigt, China zu unterwerfen, ein Land, das größer war als ganz Europa zusammen. Auf seine Hilfe konnten sie nicht zählen.
»Das bleibt unter uns, einverstanden?«
Alonzo nickte. »Was schlägst du vor?«
»Das liegt doch auf der Hand. Wir schreiben Sigismund einen persönlichen Brief. Wir teilen ihm mit, dass unsere Nichte noch um ihren geliebten Ehemann trauert, und schlagen vor, in einem Jahr mit ihm über den Vorschlag zu reden.«
»Sehr vernünftig. Schreib du den Brief.«
»Das hatte ich vor.«
15
D as nächtliche Lichtermeer zeichnete die Umrisse der Serenissima nach. Fackeln warfen ihr Licht an die hohen Mauern, Öllampen schimmerten hell in den Fenstern, beleuchtete Gondeln und Barken verschwanden und tauchten glitzernd hinter Durchfahrten auf. Als die Bestie in ihm erwachte, sah Tycho alles mit anderen Augen.
Die Welt bestand aus Licht, sogar in der Dunkelheit. Besonders Menschenmengen glichen wogenden Lichterketten, ruhelosen Lichtbündeln, die sich aus winzigen Flämmchen zusammensetzten und zu immer größeren Flammengarben zusammenschlossen.
Ein unaufhörliches Flackern, ein endloses Fließen.
Er selbst sah jedoch anders aus, und Tycho wunderte sich darüber. War das seine Welt? Dieser Strom aus vielfarbigen, unbeachteten Gefühlen, glühende Liebe und brennender Zorn.
Dieser Überfluss an Nahrung.
Er wusste, wie er auf die Radaubrüder in der nächtlichen Straße wirken musste. Ein finsterer Bursche mit hohen Wangenknochen, dessen markante Nase einen sonderbaren Kontrast zu seinen weich geschwungenen Lippen bildete. Sie schwankten auf ihn zu, den Dolch in der Hand, und wichen erschrocken zurück, wenn sie seinem dunklen Blick begegneten.
Und die Frauen? Adelige, Dirnen, Nicoletti …
Sie erkannten das Fremde in ihm und erschauerten, wenn sie ihm in engen Gassen begegneten.
Vor zehn Tagen hatte er sich einer rothaarigen Bürgerstochter in den Weg gestellt. Sie war wie angewurzelt stehen geblieben und hatte es willenlos geschehen lassen,
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