Nachtklinge: Roman (German Edition)
ersten Erinnerungen an Venedig.
Ihretwegen war er damals auf die Balustrade geklettert. Dann hatte ihn Giuliettas Schluchzen ins Innere der Kirche gelockt. Als er sich diesmal über die Brüstung schwang, stellte er fest, dass schon jemand dort war.
»Das war ja ein ausgesprochen dummer Einfall.«
»Hier heraufzuklettern?«
»Giulietta dermaßen gegen dich aufzubringen.«
Ein grünes Augenpaar musterte ihn durchdringend. Das Mädchen saß rittlings auf einem der Pferde und lächelte ihn spöttisch an. Zerlumpte Kleidung flatterte im Wind wie ein Segel, das flammend rote Haar glich einem Wimpel.
»Oder willst du etwas anderes behaupten?«
Tycho erkannte sie sofort. Die hohen Wangenknochen, der Vogelschädel an einem Lederband um ihren Hals. A’rial war Alexas Stregoi, eine Kindhexe aus Dalmatien.
»Was machst du denn hier?«
»Na, was wohl? Ich habe natürlich auf dich gewartet. Du bist so vorhersehbar. Folgst ihr hierhin, folgst ihr dorthin, du armer Junge bist wie ein Schatten auf den Spuren deiner Liebsten. Wie konntest du glauben, sie würde einen
solchen
Heiratsantrag annehmen?«
Tycho musste ihr insgeheim zustimmen.
»Du glaubst, sie hasst dich, nicht wahr? Wehe dir, wenn sie erst herausfindet, dass du Alonzos Botenjunge bist.«
Wie konnte A’rial das wissen?
»Hast du dich überhaupt schon mal gefragt, was Alonzo mit seinem Vorschlag bezweckt?«
»Er hat es mir selbst gesagt. Sigismund ist …«
»Ich spreche von seinen wahren Absichten. Wie kommt ein Millioni-Prinz dazu, einen ehemaligen Sklaven um etwas zu bitten? Vielleicht solltest du darüber mal nachdenken.«
»Er hat mich nicht gebeten.«
A’rial blickte ihn kalt an. »Denkst du wirklich, es macht für ihn keinen Unterschied, ob er mit dir oder jemand anderem verhandelt? Er ist ein Millioni, und du bist … ein Monstrum.«
»Genau wie Leopold.«
»Immer noch sauer, weil er dein Mädchen zuerst hatte?«
»Er hatte sie nie.«
A’rial seufzte. »Wie kann man so einfältig sein. So verbohrt! So störrisch, dein Talent richtig einzusetzen! Du hast Alexa eine Armee von Unsterblichen versprochen und mir, dass ich mir ein Opfer aussuchen darf. Stattdessen stehst du da und jammerst wie ein Mädchen, bloß weil Leopold …«
»Ich habe Giulietta zuerst gesehen.«
Sie wiederholte die Worte höhnisch. Tycho wusste, er hatte ihren Spott verdient. Trotzdem hasste er die Kindhexe dafür. Warum kehrte er Venedig nicht einfach den Rücken und fing woanders von vorn an? Weit, weit entfernt, irgendwo hinter Dalmatien …
Gab es einen Platz auf der Welt, wo der volle Mond nicht aufstieg und die unersättliche Gier in ihm auslöste? Da er nicht dafür tötete, kaufte er Blut, auch wenn es riskant war, den Spender am Leben zu lassen. Oder er ließ sich einsperren.
Das war kein Leben.
An manchen Tagen fragte er sich, ob er überhaupt lebte.
Als er aufblickte, war A’rial verschwunden. Was hatte sie von ihm gewollt?
Meinte er damit A’rial oder Giulietta?
Tycho wusste es selbst nicht. Jedenfalls hatte er Alonzos Auftrag nicht erfüllt und es sich obendrein mit Giulietta verdorben. Alexas Stregoi hatte ihm eine Warnung gegeben, die er nicht verstand. Das bedeutete wahrscheinlich, dass auch Alexa von seinem Versagen wusste.
Oder hatte A’rial ihn auf eigene Faust aufgesucht?
Nicht auszuschließen.
Tycho wischte sich den Regen und die Tränen vom Gesicht. Bjornvin war die Hölle gewesen, aber hier war es im Grunde nicht anders. Nur das Essen schmeckte besser, und die Stadt war schön. Vielleicht trug er die Hölle in sich selbst?
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr neigte er zu der Ansicht, dass Alexa nicht Bescheid wusste.
In diesem Monat würde er den Vollmond eingesperrt in seinem Hinterhaus überstehen, in der Gesellschaft der vielen Abbildungen, die den Verrat der Millioni und die republikanischen Tugenden darstellten. Anschließend würde er Alexa einen Besuch abstatten.
Er würde ihr sagen, was er getan hatte.
22
G egen Abend war Alexa davon überzeugt, dass dieser dritte Mittwoch im August in jeder Hinsicht ein merkwürdiger Tag war. Ihre Nichte, die wie eine Einsiedlerin lebte, beantwortete inzwischen nicht einmal mehr ihre Briefe. Heute Morgen hatte sie Giulietta durch einen Boten zu sich rufen lassen. Der Mann war unverrichteter Dinge zurückgekehrt und hatte sich stammelnd entschuldigt. Niemand habe ihm die Tür geöffnet.
Selbstverständlich hatte Alexa ihn auspeitschen lassen.
Alonzo gab ihr ebenfalls zu denken.
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