Nachtkrieger
machte Merewyn kehrt. Auf dem Weg zurück zu ihrem Cottage stiegen allerlei Bilder vor ihrem geistigen Auge auf: ein Messer, Blut, der Adler, Lord Ivo, ein Rabe, Sir Brand, Lady Alaida, der Kräutertrank, Sir Ari, der Teich … Düstere Gedanken schwirrten Merewyn durch den Kopf – immer wieder überlagert von der Erinnerung an My Lady, die fragte: »Glaubst du, du kannst mir helfen?«
Möglicherweise lag hier der tiefere Grund, nach dem Merewyn die ganze Zeit gesucht hatte. Vielleicht hatten die Götter ihr auch deshalb Sir Brand geschickt. Mit Sicherheit jedoch hatten sie sie an diesem Tag zu Sir Ari geführt, um ihr den richtigen Weg zu weisen – eine eindeutige Botschaft ohne die Notwendigkeit einer Vision. Während Merewyn noch über diese Möglichkeit nachdachte, riss die Wolkendecke auf, und ein heller Sonnenstrahl schien zwischen den Bäumen hindurch genau auf einen Vogelbeerbaum, dessen Zweige schwer von noch nicht reifen Beeren waren.
»Hab Dank, Mutter«, sagte Merewyn. Im goldenen Licht des Sonnenstrahls kniete sie vor dem heiligen Baum nieder und hob voller Ehrfurcht ihre offenen Hände gen Himmel. »Wie immer werde ich zu Diensten sein. Doch wenn möglich lass mich zunächst alles sehen, so dass ich verstehe und deinem Willen folgen kann. So sei es.«
»… und der Herzog heiratete die Wäscherin, obwohl sie nicht von adliger Geburt war. Sie gebar ihm einen Sohn, der noch mächtiger wurde als sein Vater. Aber seine Geschichte erzähle ich ein anderes Mal.«
»Sehr gut, Thomas!« Alaida und die anderen Zuhörer klatschten Beifall, nachdem Tom geendet hatte. »Wenn ich gewusst hätte, dass du ein so guter Geschichtenerzähler bist, hätte ich deine Dienste schon längst in Anspruch genommen, und My Lord müsste auf seinen künftigen Knappen verzichten.«
»Hey«, protestierte Ivo, der mit nacktem Oberkörper auf einem Kissen zu Alaidas Füßen saß.
»Welch ein Glück, dass Ihr es nicht wusstet, My Lady«, sagte Tom und errötete vor Freude. »Aber ich muss zugeben, dass ich mir die Geschichte nicht selbst ausgedacht habe. Ich habe sie von Sir Ari.«
»Wer auch immer sie sich ausgedacht hat, du hast sie sehr gut erzählt«, sagte Alaida.
»Du hast doch nicht etwa den Seneschall gedrängt, sie dir zu erzählen, mein Junge?«, fragte Oswald und machte seinen nächsten Zug auf dem Mühlebrett.
»Nein, Marschall. Aber ich höre Sir Ari immer gut zu, wenn er hier ist. Er hat stets eine gute Geschichte zu erzählen.«
»Er hat überhaupt immer etwas zu erzählen, wolltest du wahrscheinlich sagen«, meldete Ivo sich zu Wort. Er machte seinen Gegenzug und nahm Oswald einen Mühlestein ab. »Hör ihm nur gut zu, Tom. Ich kann mich fast ebenso sehr für eine gute Geschichte begeistern wie My Lady.«
»Ich wollte ihr eine Freude machen, deshalb habe ich mir diese Geschichte gemerkt«, sagte Tom. »Aber auch ansonsten lerne ich viel durch Zuhören. Und das nicht nur von Sir Ari.«
»Das musst du ja auch«, sagte Ivo und fragte Oswald: »Marschall, welche Übung habt Ihr für Tom morgen vorgesehen?«
»Er soll den Hügel hinauflaufen, My Lord. Zweimal, im Kettenpanzer«, antwortete Oswald und musterte Tom von oben bis unten.
Tom stieß einen kaum hörbaren Seufzer aus. Ivo lachte und sagte: »Dann solltest du lieber zu Bett gehen. Du wirst den Schlaf brauchen.« Er sah auf zu Alaida und fügte hinzu: »My Lady ebenso.«
»Wir werden uns zurückziehen, Leute«, sagte Oswald und sammelte das Spielbrett und die Mühlesteine ein. Dann folgten er und die anderen Tom und wünschten allseits eine gute Nacht. Nur Bôte blieb noch eine Weile und machte sich an dem Tablett zu schaffen, das Hadwisa zuvor gebracht hatte.
»Dieses faule Ding«, beklagte sie sich, während sie Brot schnitt und mit Butter bestrich. Sie hielt ein Tongefäß in die Höhe und stocherte mit einem Löffel darin herum. »Der Honig ist steinhart. Ich schicke sie noch einmal herauf, um neuen zu bringen.«
»Stell ihn einfach vor das Feuer«, sagte Alaida. »Dort wird er schneller weich, als Hadwisa ein neues Gefäß bringen könnte.«
»Aye. Stimmt vermutlich.« Bôte stellte den Honigtopf vor die glühende Holzkohle und richtete sich mit einem zufriedenen Seufzer auf. »Aber lasst ihn nicht zu lange dort stehen, mein Lämmchen. Sonst beginnt er zu kochen.«
»Wir werden schon darauf aufpassen«, sagte Alaida. »Gute Nacht, Amme.«
»Ebenso, My Lady. My Lord.«
Nachdem sich die Tür hinter Bôte geschlossen hatte, kniete Ivo
Weitere Kostenlose Bücher