Nachtkrieger
an derart reges Treiben gewöhnt, stockte Ivar der Atem: Ritter und Edelleute und Gesinde und Lärm; Hunde stritten um Knochen, ein Spielmann zeigte seine Künste, und über allem hing der Geruch nach Schweiß, Met, Fett und Rauch. Erinnerungen an andere Zeiten und andere Hallen voller Blutsverwandter, die nun längst tot waren, überfielen Ivar, trafen ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube, und er musste tief Luft holen, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dann durchquerte er, ohne nach rechts oder links zu sehen, die Halle und stieg die Treppe hinauf. Als er das Kabinett betrat, blieb er in einigen Schritten Entfernung vor dem rothaarigen, beleibten Mann stehen, der ein Brettspiel spielte, und ließ sich auf ein Knie nieder.
»Ihr kommt spät, de Vassy«, sagte William II . Rufus, Sohn des Eroberers und König von ganz England. »Ich hatte Euch für Freitag erwartet.«
»Es ist Freitag, Euer Gnaden.«
»Nicht mehr lange«, knurrte William. Er erhob sich und ging langsam um Ivar herum. Seine grünen Pantoffeln schlurften auf dem steinernen Boden, und sein Blick brannte sich nahezu in Ivars Stirn. »Die Glocken des Klosters haben bereits zum Komplet geläutet.«
»Jawohl, Euer Gnaden. Aber Ihr seid doch kein Mönch.«
Das Schlurfen der Pantoffeln verstummte am Rand von Ivars Blickfeld, und er war auf einen Schlag gefasst. Wie er mit William umging, war riskant, und es konnte jeden Moment böse enden – aber nicht heute Abend. Stattdessen ließ der König ein prustendes Lachen hören.
»Fürwahr, ich bin alles andere als das.« Er streckte eine seiner beringten Hände aus, damit Ivar sie ehrerbietig küssen konnte. Dann packte er ihn an den Schultern und befahl unwirsch: »Steht auf, Mann. Erhebt Euch! Die Übrigen, raus! Ich wünsche meinen grauen Ritter unter vier Augen zu sprechen.«
Die Edelleute, die um den Tisch herumlungerten, zögerten, und Ivar spürte ihre abschätzenden Blicke. Vermutlich fragte sich ein jeder, ob dieser unbekannte Emporkömmling seine Position bedrohen könnte. Wohl kaum. Denn jemand, der tagsüber nichts tat, stellte keine sonderliche Bedrohung dar.
»Hinaus!«, donnerte William, als seine Barone nicht die nötige Eile zeigten. Er wies mit dem Finger auf einen jungen Pagen. »Du da! Füll meinen Pokal auf, bevor du gehst!«
Hastig kam der Junge dem Befehl nach, während die Lords in Reihe aus dem Zimmer marschierten. Nachdem die Tür sich hinter dem Pagen geschlossen hatte, hob William seinen silbernen Pokal und nippte daran, während er Ivar abermals umkreiste. Dieses Mal jedoch betrachtete er ihn dabei ganz genau.
»Wie ist es möglich, dass Ihr Euch im Lauf der Jahre kaum verändert habt? Ihr seht noch immer genauso aus wie einst, als Ihr in den Diensten meines Vaters standet.«
Erwischt.
Ivar verdrängte den Gedanken und griff nach dem Wein, den William ihm reichte. Er trank einen kräftigen Schluck und sagte schließlich: »Mir wurde das Glück zuteil, keine Krone tragen zu müssen, deren Gewicht meine Stirn in Falten legen könnte.«
»Die meisten Männer wären nur allzu gern bereit, sich eine solche Last aufzubürden«, sagte William.
»Die meisten Männer sind Narren, Euer Gnaden.«
»Einschließlich meiner Person?«
Ivar begegnete Williams Herausforderung mit einem Lächeln. »Ihr wurdet für die Krone geboren, Euer Gnaden. Sie ist wie für Euch geschaffen, mag sie auch noch so schwer wiegen.«
William schwoll vor Stolz die Brust, aber er ließ nicht locker. »Und wofür wurdet Ihr geboren? Meine Herolde fanden keine Aufzeichnungen über Eure Geburt, weder in Frankreich noch in England.«
»Dennoch wurde ich geboren, so viel kann ich Euch versichern, Euer Gnaden.«
William hatte seine Herolde Nachforschungen anstellen lassen? Da ist irgendetwas im Gange.
»Aber wo? Und wer war Euer Vater?«
»Würde meine Antwort etwas an Eurer Meinung darüber ändern, wie gut ich Euch zu Diensten bin, Euer Gnaden?«
»Keinesfalls«, antwortete William und lachte dröhnend. »Dank Euch liegen de Mowbray, Tyson und die Übrigen in Ketten, und wir haben den Norden wieder in unserer Gewalt. Mit Eurer Hilfe haben wir einen schnellen Sieg errungen, so dass ich mich wieder den Angelegenheiten in Wales widmen kann. Ihr könntet der Sohn des Teufels persönlich sein, ich wäre Euch dennoch zu Dank verpflichtet.«
Ivar neigte den Kopf, um seine Zustimmung zu signalisieren und ein Lächeln zu verbergen. Der König hatte nicht die leiseste Ahnung, wie nah er der
Weitere Kostenlose Bücher