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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Das wusstest du doch.«
    Ich zuckte mit den Schultern, folgte mit dem Blick dem Schatten des Taubenschwarms und sagte: »Ich habe den Rucksack mitgenommen.«
    »So, Ingrid.« Mutter verschränkte die Armen. »Wegen deinem tollen Bruder kommen wir da wahrscheinlich nie hin.«
    Aber Ingrid hatte gar nicht zugehört, sondern hüpfte schon die ganze Zeit um uns herum wie ein Flummi.
    »Richard, ich muss mich umziehen. Du fährst jetzt kurz zu Hause vorbei, und wir nehmen den Zug eine Stunde später. Da fährt bestimmt auch einer. Die Karten liegen auf dem Fernseher. Hier ist der Schlüssel.«
    »Du hast doch jetzt Geld«, sagte ich.
    »Ich habe die Dinger schon bezahlt!«
    »Mama …«, setzte ich an, aber sie unterbrach mich: »Nee, keine Mama jetzt. Los«, sagte sie, nahm Ingrid bei der Hand und zog sie hinter sich her. »Und trödel nicht wieder.«
    »Trödel nicht«, plapperte Ingrid nach, während sie hinter Mutter herhoppelte.
     
    Wir fuhren mit dem Zug um kurz nach zwölf und nahmen einen Platz in einem Großraumabteil, in dem außer uns niemand saß. Ingrid und Mutter hockten mir gegenüber, und ich kniete, dem Fenster zugewandt, auf den dunkelroten Gummiüberzügen einer Sitzbank. Meine Stirn gegen die Scheibe gedrückt, spürte ich das Rattern des Zuges, sah Büsche und Masten am Rand der Strecke vorbeirauschen, Schrebergärten und Fußballplätze, sah die Schienen sich über das Schotterbett schlängeln, zu Weichen werden und wieder zusammenlaufen. |319| Schließlich durchfuhren wir eine Ortschaft, und zwischen roten Backsteinhäuschen ragte ein Hochhaus als riesiger grauer Betonklotz in die Höhe.
    »Guck mal«, sagte Mutter, »wer da wohl wohnt.«
    »Wohnt mein Papa da?«, fragte Ingrid.
    Die Frage schien Mutter in eine Art Schockstarre zu versetzen. Ich presste meinen Kopf gegen die Scheibe und starrte Mutters Spiegelbild aus dem Augenwinkel an. Ihr Blick huschte zu mir herüber, aber als sie bemerkte, dass ich sie ansah, wandte sie sich ab und gaffte stumm aus dem gegenüberliegenden Fenster.
    Einige Tage zuvor hatten die Kinder in Ingrids Kindergartengruppe ihre Familien gemalt, und als die anderen den typischen Vater-Mutter-Kind-Quatsch gepinselt hatten, hatte Ingrid auch einen Vater mit auf ihr Bild geschmiert. Auf dem Heimweg, als ich sie vom Kindergarten abgeholt hatte, hatte sie mich mit lauter Fragen gelöchert, auf die ich auch keine Antworten wusste. Dass sie einen anderen Vater hatte als ich, hatte sie wohl verstanden. Zu Hause hatte Mutter das Thema zügig vom Tisch gefegt. Im Laufe der Zeit hatte ich mich damit abgefunden, keine Antworten zu bekommen. Weil Jammern sinnlos war, nahm ich es hin, wie es war, und hielt die Klappe.
    Ingrid tippte mit ihren Fingerspitzen gegen die Scheibe. »Wohnt mein Papa da?«, wiederholte sie ihre Frage. Dabei verdrehte sie den Kopf, um dem verschwindenden Hochhaus hinterherschauen zu können.
    »Nein, dein Papa wohnt da nicht«, antwortete Mutter und zuppelte an der Schlaufe des Rucksacks auf ihrem Schoß herum.
    »Wo wohnt mein Papa?«, wollte Ingrid wissen.
    Mutter schlang ihre Arme um den Rucksack und drückte ihn an sich wie eine Wärmflasche. Ihr Kopf klappte in den Nacken, und sie starrte durch das kupferfarbene Gestell der Kofferablage an die Decke.
    |320| »Dein Papa …« Mutter stockte, atmete tief durch und kniff die Augen zusammen. Als sie sie öffnete, waren sie wie neu, wie glattpoliert. »Dein Papa kommt vielleicht bald zu uns zurück«, sagte sie lächelnd. Ich schluckte. Unruhig werden ließ mich, dass es klang, als glaubte sie tatsächlich, was sie sagte. Es klang anders als das ständige Gefasel vom Küchestreichen.
    »Wann?«, fragte Ingrid.
    »Überraschung. Und wenn er kommt, hat er ganz viel Geld, und wir ziehen in ein schönes großes Haus. Weg aus der Stadt.«
    »Und Ricks Papa?«, fragte Ingrid, aber Mutter winkte ab.
    »Ricks Papa ist ein Schwein«, sagte sie beiläufig. Genauso gut hätte sie mir ins Gesicht spucken können.
    »Schwein«, wiederholte Ingrid lachend. Ich schloss die Augen, und der Zug rumpelte über eine Weiche.
     
    Der Freizeitpark lag wie unter einer Käseglocke, die die Gedanken an Väter draußen und das Rattern der Achterbahnen, das Kreischen und Johlen der Leute und den Geruch von Zuckerwatte drinnen hielt. Ich war erschlagen von der Größe, der Lautstärke und der Hektik. Überall wuselten Menschen umher, aus Kitschläden plärrte Kirmesmusik, und der Lageplan war so bunt und unüberschaubar, dass ich nicht

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