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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Kühlschrank. Draußen plapperten die Jungs, schimpften, und Metall klingelte auf den Asphalt.
     
    »Hast du Hunger?«, fragte ich, und Ingrid nickte. Außer den Äpfeln hatten wir nur noch eine halbe Tüte Milch, etwas Margarine und die angefangene Packung Leberwurst im Haus.
    »Möchtest du einen Apfel?«
    Ingrid zog eine Schnute und schüttelte den Kopf. Ich sah mich um, und mein Blick blieb am Unterschrank der Spüle hängen.
    »Schoki?«, fragte ich. Ingrid lächelte. Unter der Spüle, hinter einem Haufen Plastiktüten, bunkerte Mutter Süßigkeiten, und vor einigen Tagen hatte dort ich eine halbe Tafel Schokolade entdeckt. Ich kramte sie heraus.
    »Für jeden eins«, sagte ich und brach zwei Stücke ab. Mir war klar, dass es Ärger geben würde, sobald Mutter bemerkte, |316| dass wir an die Schokolade gegangen waren. Während Ingrid sich, noch immer mit nur einer Sandale am Fuß, aufgerappelt hatte und an der Schokolade nuckelte, kletterte ich über den Tisch ans Regal mit unseren Gläsern. Einen Moment lang starrte ich sie unentschlossen an. Dann fingerte ich zwei schwarze Murmeln aus meinem Glas. Krümelmonster glotzte mich mit seinen Glubschaugen an. Schließlich nahm ich noch eine dritte und eine vierte Murmel heraus und steckte sie in meine Hosentasche.
     
    Gegen halb elf standen wir vorm Bahnhof an der Litfasssäule. Über den Vorplatz glitt immer wieder der gestreute Schatten eines Taubenschwarms, und vom Parkplatz war das Schlagen von Autotüren und Kofferraumklappen zu hören. Ich hielt Ingrid an der Hand und musste schmunzeln, weil sie ununterbrochen mit ihrem Daumen wackelte und dabei meinen Handrücken kitzelte. Schließlich fragte sie: »Wo ist Mama?« Es waren die ersten Worte, die sie an diesem Morgen überhaupt von sich gab.
    »Mama kauft noch Süßigkeiten«, hörte ich mich sagen.
    »Was denn?«
    »Lollis.«
    »Ich will Eis.«
    »Eis gibt’s später«, antwortete ich. »Was für ein Eis willst du denn?«
    Ingrid drehte die Augen zum Himmel, knabberte an ihrer Unterlippe und schaukelte mit durchgedrückten Knien von einem Fuß auf den anderen. »Fanülle.«
    »Va-nille«, korrigierte ich sie. »Ich nehme Zitrone.«
    »Ich auch.«
    »Dann nehme ich doch lieber Fanülle«, sagte ich und knetete ihre Hand.
    »Nein!«, rief sie lachend.
    »Doch«, antwortete ich, und Ingrid rieb kichernd ihren Kopf an meinem Bauch.
    |317| Ich sah mich um, ob ich Mutter irgendwo entdeckte. Neben einem Mülleimer lungerten ein paar Punks herum und waren kaum von ihren Straßenkötern zu unterscheiden, die verschlafen in den Tag blinzelten. Bei den Kofferkulis fegte ein Mann in Latzhose die Steinplatten, und Tauben und Möwen tapsten umher.
    Schließlich sah ich Mutter.
    In einem roten Minirock und einer tief ausgeschnittenen Bluse stieg sie aus einem Auto, das am Taxistand gehalten hatte. Ich drehte mich so, dass Ingrid sie nicht sehen konnte, und beobachtete, wie ihr der Fahrer des Wagens, aus der Beifahrertür gelehnt, einen Klaps auf den Hintern gab. Zum Abschied winkte sie ihm zu und stöckelte dann in hohen Schuhen und der Reisetasche über der Schulter in Richtung Litfasssäule. Als sie uns sah, zog sie sich die Schuhe aus und kam barfuß auf uns zugetrippelt.
    »Hallo, meine Süßen. Hat gerade noch so eben alles geklappt. Jetzt kann’s losgehen«, sagte sie, kniete sich zu Ingrid und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Mutters Haare waren verwuschelt und ihr Lidschatten verschmiert.
    »Du musst dich kämmen«, sagte Ingrid.
    »Ich muss mich auch umziehen«, sagte Mutter. »Das mache ich im Bahnhof. Auf dem Klo. Und die Tasche muss ich wegschließen.«
    »Wo sind die Lollis?«, fragte Ingrid.
    »Lollis? Gibt jetzt keine Lollis, Kleine.«
    »Eis?«, hakte Ingrid nach.
    »Später. Jetzt müssen wir erst mal ein bisschen schnell machen, ja? Der Zug fährt achtzehn nach elf. Hast du schon geguckt, auf welchem Gleis, Rick?«, fragte Mutter, aber ich schüttelte den Kopf. »Dann los. Hast du die Fahrkarten?« Ich deutete auf den Rucksack. »Die Fahrkarten sind im Rucksack?«, fragte Mutter. »Gut.« Sie wollte sich schon in Bewegung setzen, da bemerkte sie, wie ich sie unsicher ansah. »Richard?«
    |318| Aus dem Bahnhof drang die blecherne Stimme der Gleisansage.
    »Ich dachte, die Fahrkarten sind im Rucksack«, sagte ich.
    Mutter stöhnte. »Das ist jetzt nicht wahr, oder?«, sagte sie stimmlos. »Du hast doch jetzt nicht die Fahrkarten vergessen, Richard? Wofür habe ich die denn dann schon am Montag gekauft?

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