Nachtleben
Sorgerecht entzogen haben und sie halt sowieso überfordert war, hat sie sich anschließend nicht mehr getraut, sich bei mir zu melden. Sie hat wohl nur noch einmal mit meinen Pflegeeltern telefoniert, um ihnen zu sagen, dass
sie
jetzt meine richtigen Eltern sind.« Ein leises Schlürfen war aus einem der Schläuche zu hören, und ich starrte auf das Foto, das an den Rändern ausgefranst und abgegrabbelt war wie ein altes Gebetsbüchlein. »Haben die mit dir gar nicht über so was geredet?«, fragte Ingrid.
Ich schüttelte den Kopf und gab ihr das Foto zurück. »Das musst du mal laminieren lassen. Sonst ist das bald hinüber.«
Ingrid schnaufte zustimmend.
»Auf dem Foto, ist das mein Arm am Bildrand?«, fragte ich.
»Ja, klar. Du hast dich doch total über mich lustig gemacht«, sagte sie.
»Und wer hat das Foto gemacht?«
Ihr war anzusehen, dass sie sich diese Frage noch nie gestellt hatte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, legte den Kopf schief und sank in das Bild. Ich musste an Frau Marquard denken. Ehrlichkeit ist wichtig, ging es mir durch den Kopf, und ich spürte wieder die kühle Scheibe der Raststätte an meiner Stirn.
»Das war mein Freund Baader«, hörte ich mich sagen. »Erinnerst du dich? Christian Baader. Der hat das Foto gemacht.«
|332| Konzentriert starrte Ingrid auf das Foto, kippte es gegen das Licht, und die Runzeln verschwanden von ihrer Stirn und tauchten als Lachfalten an ihren Augen wieder auf.
»Mit Cowbyoyhut und so?«, fragte sie.
»Ja«, murmelte ich und starrte meine Stiefel an. »Ja, genau. Der hat sich immer für einen Cowboy gehalten. Der hat mich angestachelt, dass ich dich in den Teich schubse. War blöd. Jungs halt.«
Mit einer Mischung aus Staunen und Zufriedenheit sah Ingrid mich an, wie man von Bettlern angesehen wird, wenn man ihnen nicht die üblichen paar Cent, sondern einen Schnaps oder eine Zigarette in die Hand drückt.
»Zum Glück hatte Mutter Wechselwäsche dabei«, sagte ich.
Ingrid lächelte und griff nach Mutters Hand.
Die Tür des Zimmers wurde aufgestoßen. Der Arzt kam schwungvoll in den Raum, erstarrte aber mit wehendem Kittel, als er uns auf dem Rand des Bettes bemerkte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er unschlüssig, und mir war sofort klar, wie der Satz enden würde, »aber das da drüben ist Ihre Mutter.«
Als wäre es ein glühendes Brikett, ließ Ingrid die Hand der Frau los, erhob sich und wandte sich ab, stoppte aber in der Bewegung, als habe sie etwas vergessen, und betrachtete sie erneut. Dann sah sie zu Mutters Bett und strich anschließend der Frau, deren Hand sie eben noch gehalten hatte, eine Haarsträhne hinters Ohr.
Der Arzt blätterte in seinen Papieren und klickerte dabei mit dem Kuli.
»So«, sagte er und erklärte die bevorstehenden medizinischen und juristischen Schritte, als ginge es darum, einen Mietvertrag zu unterzeichnen. Einen Moment lang versuchte ich, ihm zuzuhören, aber schon nach wenigen Sätzen war seine Stimme nicht mehr als Geräuschkulisse. Vom Fußende |333| des Bettes aus betrachtete ich die ausgemergelte Frau darin. Sie war genauso wenig meine Mutter wie die Frau im Bett gegenüber. Ingrid drückte sich mit beiden Händen das Foto gegen die Brust und rieb es, als sei es ein Talisman.
Anstatt sich zu Mutter zu setzen und ihre Hand zu halten, schlurfte Ingrid neben mich, und unsere Arme berührten sich. Es kribbelte.
»Ich muss überhaupt nicht weinen«, flüsterte Ingrid.
Wir sahen die sterbende Frau an.
Schließlich nahm ich Ingrids Hand und massierte ihre Finger.
|335| Danksagung
Gruß und Kuss an Marianne Glaßer, Matthias Göke, Georg Simader, Gerrit Potz, Jan »Egge« Sedelies, Silvana Klein, Dorian Krusche, Kai Lüftner, Henning Chadde, Kersten Flenter, Stefan Heuer, Isabelle Hannemann, Annemarie Buchwitz, Henrikje Stanze, Maya Birken, Jennifer Kurbjuweit, Monika Floetenmeyer, Esther Quadflieg, Melania Anastasiadou, Dr. Harald Hermes, Volker Mehs, Anton Withagen, Elmer & Shawn Gerlock sowie die üblichen Vergessenen.
Vielen Dank für eure Unterstützung bei der Entstehung des Romans oder der Buchtrailer, euer konstruktives Feedback und eure Zeit.
Informationen zum Buch
So leicht verbrennt man nicht
Richard wächst im Kinderheim auf. Erst nach über fünfundzwanzig Jahren meldet sich seine Schwester: „Willst du Mama noch mal sehen?“ Gemeinsam brechen sie auf, und Richard berichtet, wie es ihm ergangen ist. Er erzählt von der Erzieherin Merle und seiner Geliebten
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