Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
oberen breiten Treppenabsatz abgelegt, der mit zwei flachen Stufen zum Eingang des imposanten Fachwerkhauses führte. Das Tier lag auf der Seite. Der Kopf des Hundes war an sein Hinterteil gelegt worden; die Schnauze war mit einem Seil zugebunden. Sein abgetrennter Schwanz steckte in einem Loch, das mittig in die Bauchdecke der Hündin geschnitten worden war. Statt des Kopfes lag ein Haufen kleiner Münzen auf dem Stein.
Fliegen umschwirrten die Tierleiche; erste Ameisen erkundeten bereits den Hundekörper.
Judith Brunner besah sich die Anordnung ungewöhnlich lange, obwohl der Anblick äußerst verstörend war.
Ein totes Tier kann viel bedeuten.
Dieser Kadaver auf den Stufen kündete von einer dumpfen Gefahr.
~ 2 ~
Laura ärgerte sich über die Unzulänglichkeiten ihrer Ausrüstung. Wie sollte sie nur diese außergewöhnlich lange Inschrift auf ein einziges Foto bekommen? Verflixt! »Ich trau auf Gott in allen Sachen, denn wer wolt sonst mein Helfer seyn. Ach, niemand hilft den armen Schwachen, denn nur mein Gott der thuts allein. Drum seh ich auch in meiner Noth zuförderst auf den lieben Gott. Und muss ich gleich zu trüben Zeiten was dulden, ey was ists denn nun, Ich will es herzlich gerne leiden.« Hm. Das alles ohne ein Weitwinkelobjektiv. Und wenn sie sich auf die andere Straßenseite stellte? Sie war extra sehr früh aufgestanden, um das warme Morgenlicht nutzen zu können, das beste Licht für stimmungsvolle Fotos. Diese Fotoarbeiten waren ihr wichtig. Die künftige Honorardozentin Laura Perch plante nämlich, im kommenden Herbstsemester ihren Studenten im Paläografiekurs beim Thema der Frakturschriften die Vielfalt der Anwendungen auf neue Weise zu illustrieren: mit Hausinschriften. Und aus diesem Grund nutzte die derzeitige Urlauberin Laura Perch die vorlesungsfreien Wochen, um in der Altmark entsprechendes Anschauungsmaterial zusammenzutragen. Auf ihren Vorschlag, das Seminar etwas anders als mit den üblichen Leseübungen von Handwerkerprivilegien zu beginnen, war der Fachbereichsleiter bereitwillig eingegangen. Allerdings nicht, weil er vom didaktischen Nutzen dieses ungewöhnlichen Kursbeginns überzeugt war, sondern eher, weil es dem Verantwortlichen trotz bedenklicher Mienen bei der Abnahme ihres Curriculums ziemlich einerlei war, womit sie als Honorarkraft die Studenten beschäftigte.
In den Dörfern rund um Waldau waren nur noch wenige Bauernhäuser mit Hausinschriften verziert; Laura musste ihre Suche auf entferntere Ortschaften ausdehnen. Heute Morgen sollte es im großen Bogen bis nach Neuendorf am Damm gehen. Und hier war sie nun und hoffte auf brauchbare Motive.
Bei ihrem bisher weitesten Fotoausflug war sie über zwei Stunden durch die Altmark geradelt. In den Orten wechselte ihr Blick stets vom teilweise ausgefahrenen Natursteinpflaster zu den Giebelbalken – ein immer wieder tückisches Unterfangen. Dieses Dorf hatte Walter ihr empfohlen, da es dort alte Höfe und Häuser mit gut erhaltenen Balkeninschriften geben sollte. Er war als junger Mann öfter mit dem Mofa im Dorf gewesen, und seinem Tonfall nach konnte es sich dabei nur um amouröse Ausflüge gehandelt haben. »Fahr am besten über Fleetmark und dann in Richtung Kalbe, da findest du schon unterwegs einige lohnenswerte Häuser«, lautete sein Hinweis.
Tatsächlich behielt Walter recht, und Laura hatte unter anderem in Kalbe in der Gerichtstraße angehalten und fotografiert. Auf einem Grundstück ohne Wohnhaus war ihr ein altes Wirtschaftsgebäude aufgefallen, über dessen hohem Tor die Balkeninschrift zu lesen war: »Im Jahr 1831 am 19ten September wurden diese Gebäude durch Frevlers Hand ein Raub der Flammen; durch Gottes Hülfe neu errichtet am 8ten Juni 1832 durch der Wittwe Blume geborene Blume.« Was für ein Drama!
Kurz vor Neuendorf am Damm war ihr dann ein ärgerliches Malheur passiert: Sie war mit ihrem Fahrrad über einen wenig gefährlich aussehenden, trockenen Ast gefahren, hängen geblieben und gestürzt. Sie hatte Glück im Unglück. Nur eine blutende Schürfwunde am rechten Handballen würde ein paar Tage lang etwas hinderlich sein und sicher würden sich blaue Flecken unter ihrer derben Jeanshose zeigen. Als weitaus unangenehmer erwies sich, dass neben ihrem Proviant auch der Fotoapparat aus dem Gepäckkörbchen über dem Hinterrad gefallen war. Nun klemmte auch der Filmtransport. Der Auslöser hatte ohnehin schon ein ziemliches Eigenleben entwickelt. Das ständige Fummeln, bis wieder eine
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