Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
Aufnahme im Kasten war, noch dazu mit ihrer verletzten Hand, kostete Laura wertvolle Zeit. Sie fluchte leise vor sich hin. Das Licht war inzwischen nicht mehr optimal – die Sonne stand schon zu hoch am Himmel und es wurde zunehmend wolkiger. Sie hatte nur noch einen Film dabei und wollte davon so wenige Aufnahmen wie möglich verwackeln. Hätte sie doch wenigstens ein Stativ mitgenommen!
Laura ließ sich vor einem unbewohnt aussehenden Haus zum kurzen Rasten auf einem morschen Bänkchen nieder. Sie nahm einen kühlen Schluck Rhabarbersaft aus der Thermoskanne, griff zu ihren Notizen, die sie stets dabei hatte und zog eine kurze Bilanz. Als sie vor einigen Wochen begann, ihre Expeditionen zu den Balkeninschriften zu planen, führte sie ihr erster Weg in die Universitätsbibliothek. Dabei hatte sie erstaunt festgestellt, wie wenig es über diese Zeugnisse handwerklicher und bäuerlicher Traditionen in der Altmark zu finden gab. Immerhin, einiges hatte sie erfahren können und sich notiert. Sie las die paar Sätze noch einmal quer: Hausinschriften waren früher üblich und sind deswegen in vielen altmärkischen Orten zu sehen. Sie erzählen sowohl über die Gebäude, aber auch über die Erbauer. Man findet die Inschriften vor allem in den Eichenbalken an der langen Vorderfront der Häuser. Auch die Balken über Haustüren und Hoftoren werden verziert. Oft sind sie mit einem Heilszeichen, wie einer Sonne oder einem Stern, versehen. Einige dieser Sprüche sind sogar aus dem Holz herausgearbeitet. Sie sind erhaben dargestellt. Andere wiederum sind in die Balken eingeschnitten.
Mitunter findet man auch am Ende eines Balkenspruchs die Worte »Anno Domini« – Im Jahre des Herrn. Sie stehen auch abgekürzt als »A.D.« oder »a.D.«. Auf diese Weise erfährt der Betrachter das Baujahr des Hauses und somit sein Alter. Manche Gebäude verraten durch ihre Balkeninschrift auch den Namen des Bauherren »BH« und den seiner Frau »BF« – also Baufrau. In einigen Gebieten der Altmark war es darüber hinaus üblich, den Namen des Baumeisters »BM« zu erwähnen.
Sogar über die teilweise tragischen Hintergründe, die zum Hausbau führten, berichten die Buchstaben in den Balken. So ist über der Hoftür einer ehemaligen Gaststätte in Dannefeld zu lesen: »Mein erstes Haus ist abgebrannt/Der Thäter ist noch nicht bekannt/Gott aber kennt den Thäter schon/Der wird ihn auch dafür belohn.« Ein ähnlicher Spruch lautet: »Ich baue nicht aus Lust und Pracht. Ein Bösewicht hat mich dazu gebracht.«
Es gibt natürlich auch positive Gründe für den Hausbau: »Durch Gottes Huld und großen Erntesegen konnte ich den Grund zu dieser Scheune legen« – ließ ein Bauer im Balken eintragen.
Da die Altmark früher ein rein agrarisches Gebiet war, beziehen sich viele Balkeninschriften vor allem auf die Landwirtschaft. Bäuerliche Weisheiten wurden so ins Holz geschnitzt. Man findet Sprüche wie »Willst Du von die Kuh gut buttern, musst Du aus dem Schrotsack futtern.« Gute Pferde waren der Stolz eines jeden Bauern. So kann man auch diesen Spruch verstehen: »Wer will gute Pferde haben, der muss keine Körner sparen. Füttre gut, putze gut, so sind auch die Pferde gut.«
Viele der Sprüche zitieren Textstellen aus der Bibel. Ob das daher kam, dass früher vor allem die Lehrer, also die Schulmeister oder Köster, das Ausgestalten der Balken übernahmen? In einigen Gebieten allerdings, so beispielsweise im Nordwesten der Altmark, brachten auch die Dorfmusikanten die Sprüche an.
Einige Inschriften weisen auf menschliches Verhalten hin: »Wenn du gehst aus diesem Haus, Was dir vertraut, nicht plaudre aus« oder: »Wenn Laub und Gras wüchse wie Neid und Hass, Wie gut wäre das.« Aber auch Sprüchlein dieser Art sind zu lesen: »Wo ist wohl der Mensch zu finden, der da lebte ohne Sünden?« Damit wurde, wie kann es anders sein, der Balken einer Gaststätte geschmückt.
Laura steckte die Unterlagen wieder weg und sann über ihre bisherige Ausbeute nach. Sie nahm sich vor, weit mehr Balkeninschriften zu finden, um sich intensiver mit dem Thema befassen zu können. Sie selbst hatte die Sprüche, die die alten Balken zierten, schon immer gern entziffert. Irgendwie bedauerte sie es, dass heutzutage die schöne Sitte der Balkeninschriften kaum noch Anhänger fand. Ab und zu war immerhin zu sehen, dass wenigstens noch die Anfangsbuchstaben des Namens vom Bauherrn und seiner Frau und die Jahreszahl des Baujahres in den Balken über der
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