Kismet Knight
Kapitel 1
Meine Beziehung zu Vampiren begann in aller Unschuld. Lang bevor das Blut ins Spiel kam, sozusagen.
Wie die meisten Psychologen war ich dazu ausgebildet worden, die Welt durch die diagnostische Brille zu betrachten, mir die Geschichten meiner Patienten mit dem metaphorischen Ohr anzuhören und überall nach der
wirklichen
Bedeutung zu suchen. Glücklicherweise wurde meine Neigung, jeden Menschen auf eine Neurose zu reduzieren, ein Stück weit von einem respekt losen, morbiden Humor untergraben, der mich davor bewahrte, mich selbst und die Welt ringsum allzu ernst zu nehmen.
Ich war zwar nie so weit gegangen wie manche meiner Kollegen, die nur glaubten, was man beweisen konnte – wenn es nicht in Zahlen darzustellen war, dann existierte es nicht –, aber im Lauf der Jahre hatte ich in meiner privaten Praxis so viel merkwürdiges Zeug erlebt, dass ich zu einer größeren Skeptikerin geworden war, als ich selbst mir gern eingestand.
Diese Privatpraxis hatte Entführungen durch Außerirdische, dämonische Inbesitznahmen, Satanskult-Geschädigte, religiöse Fanatiker und parasitäre Wesenheiten gesehen – all die modernen, neuen psychischen und emotionalen Probleme eben. Sowie selbstverständlich sämtliche
normalen
Therapiethemen.
Als ich an jenem schicksalhaften Freitag also die Tür öffnete,die mein Warte- vom Sprechzimmer trennte, um meine neue Patientin zu begrüßen, war ich nur einen Moment lang überrascht. Wer dort auf mich wartete, war eine junge Frau in einem langen schwarzen Kleid, über dem sie ein Samtcape in dunklem Violett trug. Alle zehn Finger waren mit Ringen geschmückt, und ein langer Schlangenarmreif mit rot funkelnden Augen wand sich vom Handgelenk bis zum Ellbogen um ihren Unterarm. Sie hatte taillenlanges hellbraunes Haar mit vielfarbigen Strähnchen darin und trug dramatisches weißes Make-up mit dunkelrotem Lippenstift und bemerkenswert echt aussehenden, sehr hochwertigen herausnehmbaren Reißzähnen.
In meinen Gedanken begannen sofort die möglichen Schubladen aufzugehen. Gothgirl? Möchtegernvampir? Rebellierender Teenager?
»Bitte komm doch herein und setz dich!« Ich schenkte ihr mein wärmstes therapeutisches Lächeln und winkte zu dem Sofa und den Sesseln im Sprechzimmer hinüber. »Ich bin Dr. Knight. Nenn mich doch bitte Kismet.«
Das ist mal ein Outfit! Um fair zu sein – es ist spektakulär! Sie hat wirklich ein Händchen fürs Dramatische. Und was ist das für ein wunderbarer Duft – Sandelholz?
Sie kam schweigend herein, gab mir den Stoß Vordruckblätter, den sie im Wartezimmer ausgefüllt hatte, und nahm sich den Sessel, der am weitesten von mir entfernt stand. Ich überflog die Einträge und stellte fest, dass sie als Namen »Midnight« angegeben hatte.
»Midnight? Das ist wunderschön. Gibt es auch einen Nachnamen?«
»Nein. Ich brauche nichts aus meiner menschlichen Vergangenheit«, erklärte sie mit übertriebener Ernsthaftigkeit.
Okay. Keine voreiligen Schlüsse bitte!
Ich setzte mich in denSessel gegenüber und griff nach Block und Kugelschreiber. »Bitte sag mir, inwiefern ich dir helfen kann.«
»Ich bin bloß hier, weil meine Familie mich geschickt hat. Sie können meine Entscheidungen einfach nicht akzeptieren und hoffen jetzt, dass Sie mir den Wunsch, ein Vampir zu sein, ausreden werden. Sie wollen, dass Sie mich
heilen
.« Ihre Stimme trennte jedes Wort klar vom nächsten – eine Reihe wütender kleiner Stakkatotöne.
Jetzt musterte sie mich mit dem Blick, den ich von jüngeren Patienten bereits gewöhnt war, mit der amüsierten Bestandsauf nahme, die das hellblaue Schneiderkostüm und die schwarzen Schuhe mit den halbhohen Absätzen zur Kenntnis nahm und als hoffnungslos konventionell verbuchte. Dann landeten ihre Augen unvermeidlich bei meinem Haar, das sehr lang und lockig war und oft eigene Vorstellungen hatte. Der Kontrast zwischen dem konservativen Kostüm und der unbeabsichtigten Rockstarfrisur geriet dem Bild in die Quere, das sie sich gerade von mir machten. Mir macht der kurze Moment der Verwirrung, der sich an genau diesem Punkt unweigerlich auf den Gesichtern abzeichnet, jedes Mal Spaß. Meine Freude daran, andere aufs Glatteis zu führen, hat mich noch nie im Stich gelassen.
Sie zog ihren Rock hoch, bis der Saum auf ihren Knien lag, und schlug dramatisch ihre Beine übereinander. »Sie sind anders, als ich erwartet habe.«
Ich lächelte. »Was hast du denn erwartet?«
»Eine ältere Frau mit Haarknoten und ohne Make-up. Sie
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