Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
und einen Backenbart. Seine Hände waren kräftig, Letitia rätselte, wer er sein mochte. Sie fragte eine Nachbarin, die neben ihr stand.
»Nein, diesen Mann kenne ich nicht«, raunte ihr die Frau zu. »Ich finde, er sieht unheimlich aus.«
Letitia fragte sich, was den Fremden dazu brachte, der Beerdigung ihrer Mutter beizuwohnen. Es musste einen Grund dafür geben.
Vier Männer ließen den Sarg ins Grab hinab. Mit einem leisen Poltern gelangte er auf den Grund. Die Männer traten zurück. Ein Nachbar fasste Letitia am Arm und deutete auf die Schaufel, die in dem ausgehobenen Erdhaufen steckte.
Letitia trat ans Grab, warf schluchzend einen Blumenstrauß als letzten Gruß hinein und ließ dann drei Schaufeln Erde folgen. Dumpf fielen sie auf den Sarg. Letitia ging an dem Grab vorüber und blieb an seinem Kopfende stehen. Die Trauergäste wandelten vorbei, warfen jeder drei Schaufeln Erde in die Grube, und wer es noch nicht getan hatte, sprach Letitia sein Beileid aus.
Wieder einmal wurde ihr klar, wie zurückgezogen ihre Mutter doch gelebt hatte. Als hätte sie sich absichtlich abgekapselt und Angst gehabt.
Eine alte Frau humpelte weinend auf Letitia zu und drückte ihr die Hand.
»Mein herzliches Beileid. Was für ein Verlust. Mary war noch so jung.«
Von der Warte der alten Frau aus gesehen, traf das zu.
Dann näherte sich, als Letzter, der am offenen Grab vorbeizugehen hatte, der Fremde. Er stand da, die Schaufel in der Hand, und starrte in die Grube, als überlege er. Täuschte sich Letitia, oder kräuselte ein spöttisches Lächeln seine Mundwinkel?
Mit ruckartiger Geste warf der Fremde drei Schaufeln Erde mit größerer Wucht, als nötig gewesen wäre, auf den Sarg. Dann stieß er die langstielige Schaufel in den Erdhaufen und kam auf Letitia zu. Sein Händedruck verriet eine verblüffende Kraft.
»Ich bin Thomas Morton«, sagte er mit tiefer, kräftiger Stimme. »Dein Onkel aus Stornoway. Mein Beileid zu Marys Tod.«
Letitia erschrak. Ihr fiel plötzlich ein, was ihre Mutter ihr kurz vor ihrem Tod erzählt hatte. Letitia hatte das schon als die Phantasien einer Sterbenden abgetan, die nicht mehr klar denken konnte. Doch jetzt stand tatsächlich jemand aus diesem sagen haften Stornoway vor ihr.
Und gab sich sogar noch als ein naher Verwandter aus. Letitia hatte bis zu diesem Moment noch nie einen ihrer Verwandten gesehen, ja, von den letzten Worten ihrer Mutter abgesehen nicht einmal gewusst, dass sie überhaupt welche hatte. Ihre Mutter hatte ihr nämlich früher erzählt, sie wäre in den schottischen Highlands als Waisenkind aufgewachsen und als junges Mädchen nach London gekommen, weil sie dort bessere Chancen für sich gesehen habe.
»Sind Sie der Bruder meiner Mutter?« fragte Letitia.
»Sonst wäre ich wohl kaum dein Onkel.«
Mortons Stimme klang wie eine Zurechtweisung.
»Ich kenne Sie nicht.« Letitia wich unwillkürlich einen Schritt vor dem so unverhofft aufgetauchten Onkel zurück. »Warum haben Sie sich früher nie bei uns blicken lassen?«
»Das hättest du deine Mutter fragen sollen, weshalb sie jeden Kontakt mit ihren Verwandten ablehnte und sich vor ihnen versteckte. Die Schuld lag nicht bei uns. Wir sind redliche Leute. Aber jetzt habe ich dich gefunden, Nichte, und ich bin froh darüber. Du wirst mit nach Stornoway kommen.«
Thomas Mortons herrischer Ton missfiel Letitia. Sie war eine ausgeprägte Individualistin. Sie war zwanzig Jahre lang ohne ihre Verwandten aus Stornoway ausgekommen, und sie sah nicht ein, wozu sie sie jetzt brauchen sollte.
Ihre Mutter würde schon triftige Gründe gehabt haben, mit ihrer Familie zu brechen.
»Und wenn ich nicht nach Stornoway will? Ich lebe in London. Hier habe ich meine Wohnung und meine Arbeitsstelle, meine Freunde und Bekannten. London ist meine Heimat. Nach Stornoway lockt mich nichts.«
»Du arbeitest? Das ist ja interessant. Als was denn?«
»Ich bin Bankangestellte.« Letitia ärgerte sich, dass sie die Frage überhaupt beantwortete. Doch sie wollte höflich sein. »Was ist denn daran so verwunderlich?« fragte sie, als Thomas Morton eine Grimasse schnitt.
»Nun, eine Morton in einer Bank. das ist allerdings etwas Besonderes. Wir sind Großgrundbesitzer. Uns gehört die halbe Insel Lewis and Hains, die größte der Hebriden. Die weiblichen Mortons sind Herrinnen, vor denen sich alles beugt. Und du bist eine Bankangestellte, die jeder Vorgesetzte kommandieren kann, die zu Kunden freundlich sein muss…«
Thomas Morton
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