Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
den Schultern. Da Tracy bereits die wütende Rolle übernommen hatte, versuchte Grizzie mich zu trösten. »Das tut mir wirklich leid für dich, Süße«, sagte sie und legte ihre langen Arme um mich. »Das ist… so schade.«
Es war wirklich ein Jammer. Meine Freunde wollten, dass ich nach vorne schaute. Mein Vater wollte, dass ich nach vorne schaute. Und verdammt, abgesehen von diesem kleinen eisigen Splitter in mir, der mich in meinen Schuldgefühlen erstarren ließ, wollte auch ich die Vergangenheit hinter mir lassen. Aber das restliche Rockabill schien etwas dagegen zu haben.
Grizzie strich mir die Ponyfransen aus dem Gesicht, und als sie sah, dass mir die Tränen in den Augen standen, schritt sie auf ihre ganz spezielle Grizelda-Art ein. Sie bog
mich wie eine Tangotänzerin nach hinten und brummte: »Baby, ich schmier dir Honig um den Mund …«, und dann vergrub sie ihr Gesicht in meinen Bauch und machte ein prustendes Geräusch.
Es wirkte. Ich lachte wieder und dankte den Sternen wieder einmal, dass sie Grizzie und Tracy nach Rockabill geführt hatten, denn ich wusste nicht, was ich ohne sie getan hätte. Ich umarmte sie noch einmal für das schöne Geschenk und ging dann ins Hinterzimmer, um es zu meinen Sachen zu legen. Ich öffnete die Schachtel erneut, strich zum Abschied über den roten Satin und seufzte zufrieden.
Das Negligé würde sich fantastisch in meiner Schmuddelschublade machen.
Wir hatten nicht viel zu tun, bevor der Laden öffnete, was uns die Gelegenheit zum Plaudern gab. Eine knappe halbe Stunde später hatte sich das Thema »Was ist passiert, seit du weg warst« weitgehend erschöpft, und wir wandten uns den Plänen für die kommende Woche zu. Da erklang plötzlich das kleine Glöckchen über der Ladentür. Meine Stimmung trübte sich, als ich sah, dass es Linda Allen war, die selbsternannte Vorsitzende meines örtlichen Kesseltreiber-Kommandos. Sie war nicht ganz so schlimm wie Stuart Gray, der mich sogar noch mehr verabscheute als Linda, aber sie gab ihr Bestes, um mit ihm mithalten zu können.
»Ganz zu schweigen vom Rest von Rockabill«, dachte ich, als Linda in der Ecke mit den Liebesromanen verschwand. Natürlich hielt sie es nicht für nötig, mit mir zu sprechen. Sie warf mir nur einen ihrer berüchtigten vernichtenden Blicke zu, die sie abfeuern konnte wie eine Panzerfaust aus dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Blicke hatten immer
die gleiche Botschaft. Sie sprachen davon, dass ich diejenige war, deren verrückte Mutter während eines schlimmen Unwetters plötzlich wie aus dem Nichts und splitterfasernackt mitten in der Stadt aufgetaucht war. Sie sprachen davon, dass sie einen der begehrtesten jungen Männer gestohlen und sein Leben ruiniert hatte. Davon, dass sie ein Kind bekommen hatte, ohne verheiratet zu sein. Davon, dass ich dieses Kind war und die Sache auf die Spitze trieb, indem ich genauso seltsam war wie meine Mutter. Aber all das war nur die Spitze des Eisbergs der Verschmähungen, die Linda mir nonverbal unter die Nase rieb, wann immer sie Gelegenheit dazu bekam.
Leider war Linda beinahe eine genauso besessene Leserin wie ich, also begegnete ich ihr mindestens zweimal im Monat, wenn sie in den Buchladen kam, um sich einen neuen Stapel Liebesromane zu besorgen. Sie bevorzugte eine ganz bestimmte Art von Handlung: Ihr gefielen Geschichten, in denen ein kühner Pirat irgendeine jungfräuliche Maid entführt und ihr so lange Gewalt antut, bis sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann massakriert er unzählige Seeleute, während sie sein Entermesser poliert. Wahlweise entführt auch ein wilder Clanführer aus den schottischen Highlands irgendeine Englische Rose, tut ihr so lange Gewalt an, bis sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann löscht er das gesamte englische Heer aus, während sie seine Haggis-Wurst stopft. Oder ein schöner indianischer Krieger entführt eine jungfräuliche weiße Siedlerin, tut ihr so lange Gewalt an, bis sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann tötet er jede Menge Siedler, während sie sein Tomahawk wetzt. Ich möchte ja ungern Freud bemühen,
wenn es um Linda geht, aber ihre Lesevorlieben sagen doch viel darüber aus, warum sie so ein verdammtes Miststück ist.
Tracy hatte einen Telefonanruf entgegengenommen, während Linda noch ihre Bücher aussuchte, und Grizelda hatte sich auf einem Hocker ganz weit hinter der Ladentheke platziert, als wollte sie sagen: »Danke, aber ich bin gerade nicht im Dienst.« Doch
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