Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
Linda ignorierte absichtlich die Tatsache, dass nur ich gerade frei war, und baute sich stattdessen demonstrativ vor Tracy auf. Tracy gab ihr ein Zeichen mit den Augen, sich an mich zu wenden, aber Linda tat weiterhin hartnäckig so, als würde sie mich gar nicht sehen. Schließlich seufzte Tracy und brach ihr Telefongespräch ab. Ich sah ihr an, dass sie Linda am liebsten die Meinung gesagt hätte, aber Read it and weep konnte es sich nicht erlauben, eine so gute - wenn auch boshafte - Kundin zu vergraulen. Also tippte Tracy Lindas Einkäufe in die Kasse und packte die Bücher in eine Tüte, die sie Linda dann so höflich, wie das eben möglich war, ohne wirklich freundlich zu sein, überreichte. Zum Abschied warf Linda mir noch einen ihrer giftigen Blicke zu, mit denen ich zwar immer rechnen musste, die mich dann aber doch immer wieder unvermutet trafen.
Es war ein Blick, der sagte: » Da ist die Irre, die ihren eigenen Freund getötet hat. «
Natürlich stimmte das so nicht. Ich hatte ihn nicht eigenhändig umgebracht. Ich war nur der Grund dafür, dass er jetzt tot war.
KAPITEL 2
I ch war praktisch schon dabei, mich auszuziehen, noch bevor ich in der kleinen Bucht angekommen war, die mein geheimer Zufluchtsort war. Ich war viel zu wütend, um mich um einen Neoprenanzug zu scheren.
»Scheiß Linda«, dachte ich, als ich mir aufgebracht mein T-Shirt und den BH vom Leib riss.
»Scheiß Rockabill« - dieser Gedanke ließ mich noch schneller aus meiner Jeans und dem Höschen schlüpfen.
»Und Scheiß Ich«, dachte ich, als meine Schuhe und Socken in hohem Bogen in den Sand flogen. Von da waren es nur noch ein paar beherzte Schritte bis ins Meer, dessen Wellen mich sogleich umfingen wie die Arme meiner Mutter, als ich noch ein kleines Mädchen war. Tatsächlich war das Schwimmen alles, was mir von meiner Mutter geblieben war. Ihr Gesicht, das Gesicht in meinen persönlichen Erinnerungen hatte schon vor Jahren angefangen zu verblassen und war von Einzelheiten ersetzt worden, die ich nur von Fotos kannte. Aber unsere gemeinsamen heimlichen Schwimmausflüge mitten in der Nacht werde ich nie
vergessen. Sie waren das kleine Geheimnis, das mich als Kind mit ihr verband.
Und das, wie ich heute vermute, meine Familie zerstört hat.
Meine Mutter, Mari, war eines Nachts, als gerade ein heftiger Sturm aufzog, pudelnackt aufgetaucht. Mein Vater und die anderen Männer aus dem Dorf waren schon seit Stunden damit beschäftigt gewesen, die Fenster der Geschäfte und Häuser auf unserer kleinen Hauptstraße und dem Dorfplatz zu verbarrikadieren. Plötzlich stieß sein Freund Trevor einen überraschten Pfiff aus, und Louis schnaubte »Heilige Scheiße«, in dem ehrfurchtsvollen Ton, den er auch anschlug, wenn sie das große Feuerwerk am Vierten Juli bewunderten. Dann hatte mein Vater, und so ziemlich alle, die in Rockabill lebten, aufgeblickt und eine nackte junge Frau mit hüftlangem schwarzen Haar gesehen, die die Straße entlanggeschlendert kam, als hätte sie eine Einladung bekommen, auf der ausdrücklich »Keine Garderobe erwünscht« gestanden hatte. Niemand rührte sich, nur mein großer, mutiger Vater zog seinen Mantel aus und legte ihn der jungen Frau um die Schultern. Sie lächelte ihn an, und er sagte immer, dass das der Moment war, in dem er wusste, dass er sie liebte und nicht ohne sie leben konnte.
Aus Gründen des Anstands hatte er sie jedoch in die einzige Pension von ganz Rockabill gebracht, die die Grays damals betrieben. Dass es strategisch günstig ganz in der Nähe unseres Hauses lag, wurde in der offiziellen Geschichte nie explizit erwähnt. Damals lebten Nick und Nan noch und führten das Gästehaus, nicht Stuarts bösartige Eltern Sheila und Herbert. Nick und Nan gaben ihr ein Bett
für die Nacht, waren aber nicht besonders überrascht, als sie es morgens leer vorfanden. Es überraschte sie genauso wenig, dass sie das Mädchen morgens zusammen mit meinem Dad im örtlichen Diner antrafen, wo sie sich ein üppiges Frühstück, bestehend aus Eiern mit Speck und Pfannkuchen, teilten. Ein Jahr später kam ich zur Welt, und wir waren die perfekte glückliche Familie. Meine Eltern liebten sich über alles, und Nick und Nan gaben die idealen Ersatzgroßeltern ab (die Eltern meines Vaters waren schon gestorben, bevor ich geboren wurde), und schon bald wurde Nicks und Nans richtiger Enkel, Jason, mein bester Freund und Seelenverwandter. Sechs Jahre lang war ich wohl das glücklichste Kind der Welt. Bis zu einer
Weitere Kostenlose Bücher