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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ich zunächst einfach lachte. Amadeu machte mir in der Praxis ein Bett, bevor wir am nächsten Tag fuhren.
    ›Das glaube ich einfach nicht‹, sagte ich. ›Mich töten‹. Ich sah ihn an. ›Wir reden von Jorge, deinem Freund‹, sagte ich.
    ›Eben‹, sagte er tonlos.
    Was er denn genau gesagt habe, wollte ich wissen, doch er war nicht bereit, die Worte zu wiederholen.
    Als ich nachher allein in der Praxis lag, ging ich alles, was ich mit Jorge erlebt hatte, in Gedanken durch. War er fähig , an so etwas zu denken? Ernsthaft daran zu denken? Ich wurde müde und unsicher. Ich dachte an seine Eifersucht. Ich dachte an Momente, in denen er mir gewalttätig und rücksichtslos erschienen war, wenngleich nicht mir gegenüber. Ich wußte es nicht mehr. Ich wußte es nicht.
    Bei Amadeus Beerdigung standen wir nebeneinander am Grab, er und ich. Die anderen waren gegangen.
    ›Du hast es doch nicht wirklich geglaubt , oder?‹ fragte er nach einer Weile. ›Er hat mich mißverstanden . Es war ein Mißverständnis, ein einfaches Mißverständnis.‹
    ›Jetzt ist es nicht mehr wichtig‹, sagte ich.
    Wir sind auseinandergegangen, ohne uns zu berühren. Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Lebt er noch?«
    Nach Gregorius’ Antwort war es eine Weile still. Dann stand sie auf und holte aus dem Regal ihr Exemplar von o mar tenebroso, dem großen Buch, das bei Prado auf dem Pult gelegen hatte.
    ›Und er hat bis zum Schluß darin gelesen?‹ fragte sie.
    Sie setzte sich und behielt das Buch im Schoß.
    »Es war einfach zuviel, viel zuviel für ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen, wie ich es war. Badajoz, bei Nacht und Nebel zu Joãos Tante, die Nacht in Amadeus Praxis, der fürchterliche Gedanke an Jorge, die Fahrt neben dem Mann, der mir den Schlaf geraubt hatte. Ich war vollkommen durcheinander.
    Die erste Stunde fuhren wir, ohne etwas zu sprechen. Ich war froh, Steuer und Schaltung bedienen zu können. Wir sollten im Norden, bei Galicien, über die Grenze, hatte João gesagt.
    ›Und dann fahren wir nach Finisterre‹, sagte ich und erzählte ihm die Geschichte mit dem Lateinstudenten.
    Er bat mich anzuhalten und umarmte mich. Danach bat er mich immer wieder und immer häufiger. Die Lawine brach los. Er suchte mich. Aber genau das war es: Er suchte nicht mich , er suchte das Leben . Er wollte immer mehr davon, und er wollte es immer schneller und gieriger. Nicht, daß er grob geworden wäre oder gewaltsam. Im Gegenteil, vor ihm hatte ich nicht gewußt, daß es solche Zärtlichkeit gab. Aber er verschlang mich darin, sog mich in sich hinein, er hatte einen solchen Heißhunger nach dem Leben, nach seiner Hitze, seiner Begierde. Und er war nach meinem Geist nicht weniger hungrig als nach meinem Körper. Er wollte in den wenigen Stunden mein ganzes Leben kennenlernen, meine Erinnerungen, Gedanken, Phantasien, Träume. Alles. Und er begriff mit einer Geschwindigkeit und Genauigkeit, die mir nach anfänglichem freudigem Erstaunen angst zu machen begann, denn sein rasendes Verstehen riß alle schützenden Mauern nieder.
    In den Jahren danach ergriff ich die Flucht, wann immer jemand mich zu verstehen begann. Das hat sich gelegt. Aber eines ist geblieben: Ich will nicht, daß mich jemand ganz versteht. Ich will unerkannt durchs Leben gehen. Die Blindheit der anderen ist meine Sicherheit und meine Freiheit.
    Obgleich es sich jetzt so anhört, als habe Amadeu sich ja doch mit Leidenschaft wirklich für mich interessiert, war es doch nicht so. Denn es war keine Begegnung . Er saugte mit allem, was er erfuhr, vor allem Lebensstoff ein, von dem er nicht genug bekommen konnte. Ich war, um es anders zu sagen, gar nicht wirklich jemand für ihn, sondern ein Schauplatz von Leben, nach dem er griff, als habe man ihn bisher darum betrogen. Als wolle er noch einmal ein ganzes Leben leben, bevor ihn der Tod ereilte.«
    Gregorius erzählte von dem Aneurysma und der Gehirnkarte.
    »Mein Gott«, sagte sie leise.
    Sie hatten in Finisterre am Strand gesessen. Draußen war ein Schiff vorbeigefahren.
    »›Laß uns ein Schiff nehmen‹, sagte er, ›am bestens eins nach Brasilien. Belém, Manaús. Der Amazonas. Wo es heiß und feucht ist. Ich würde gern darüber schreiben, über Farben, Gerüche, klebrige Pflanzen, den tropfenden Urwald, Tiere. Ich habe immer nur über die Seele geschrieben.‹«
    Dieser Mann, der nie genug von der Wirklichkeit bekommen konnte , hatte Adriana über ihn gesagt.
    »Es war nicht pubertäre Romantik und auch nicht der

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