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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Kitsch eines alternden Mannes. Es war echt , es war wirklich . Doch es hatte wiederum nichts mit mir zu tun. Er wollte mich auf eine Reise mitnehmen, die ganz allein seine Reise gewesen wäre, seine innere Reise in vernachlässigte Zonen seiner Seele.
    ›Du bist mir zu hungrig‹, sagte ich, ›ich kann das nicht; ich kann nicht.‹
    Als er mich damals in den Torbogen gezogen hatte, war ich bereit gewesen, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen. Doch da wußte ich noch nichts von seinem schrecklichen Hunger. Denn, ja, irgendwie war er auch schrecklich, dieser Lebenshunger. Von verschlingender, zerstörerischer Wucht. Furchterregend. Furchtbar.
    Meine Worte müssen ihn fürchterlich verletzt haben. Ganz fürchterlich. Er wollte kein gemeinsames Zimmer mehr nehmen, zahlte für zwei einzelne. Als wir uns später trafen, hatte er sich umgezogen. Er blickte gefaßt und stand sehr steif da, sehr korrekt. Da begriff ich: Er hatte durch meine Worte das Gefühl bekommen, daß er seine Würde verloren hatte, und die Steifheit, die Korrektheit waren der hilflose Versuch zu zeigen, daß er sie sich zurückerobert hatte. Dabei hatte ich das gar nicht so gesehen, es war nichts Würdeloses gewesen in seiner Leidenschaft, auch nicht in der Begierde, es ist der Begierde nicht von sich aus eigen, daß sie würdelos ist.
    Ich habe kein Auge zugetan, trotz vollständiger Erschöpfung.
    Er würde einige Tage hierbleiben, sagte er am nächsten Morgen knapp, und nichts hätte seinen vollständigen inneren Rückzug besser zum Ausdruck bringen können als diese Knappheit.
    Zum Abschied gaben wir uns die Hand. Sein letzter Blick war nach innen hin versiegelt. Er ging zurück ins Hotel, ohne sich noch einmal umzudrehen, und bevor ich Gas gab, wartete ich vergeblich auf ein Zeichen am Fenster.
    Nach einer unerträglichen halben Stunde hinter dem Steuer fuhr ich zurück. Ich klopfte. Er stand ruhig unter der Tür, ohne Feindseligkeit, beinahe ohne Regung, er hatte mich aus seiner Seele ausgeschlossen, für immer. Ich habe keine Ahnung, wann er wieder nach Lissabon zurückgefahren ist.«
    »Nach einer Woche«, sagte Gregorius.
    Estefânia gab ihm das Buch.
    »Ich habe den ganzen Nachmittag darin gelesen. Zuerst war ich entsetzt. Nicht über ihn. Über mich. Daß ich keine Ahnung hatte, wer er war. Wie wach er sich selbst gegenüber war. Und wie aufrichtig. Schonungslos aufrichtig. Dazu seine Wortgewalt. Ich habe mich geniert, daß ich zu einem solchen Mann einfach gesagt hatte: ›Du bist mir zu hungrig‹. Doch dann wurde mir langsam klar: Es war schon richtig, das zu sagen. Es wäre auch richtig gewesen, wenn ich seine Sätze gekannt hätte.«
    Es ging auf Mitternacht. Gregorius wollte nicht gehen. Bern, die Eisenbahn, der Schwindel – alles war weit weg. Er fragte, wie aus dem Latein lernenden Postmädchen eine Professorin geworden sei. Ihre Auskünfte waren knapp, fast abweisend. Das gab es: daß jemand sich ganz öffnete, was die ferne Vergangenheit anlangte, aber versiegelt blieb, wenn es um das Spätere und um die Gegenwart ging. Intimität hatte ihre Zeit.
    Sie standen bei der Tür. Da entschied er sich. Er holte den Umschlag mit Prados letzter Aufzeichnung hervor.
    »Ich denke, daß diese Sätze am ehesten Ihnen gehören«, sagte er.

51
     
    Gregorius stand vor dem Schaufenster einer Wohnungsagentur. In drei Stunden ging sein Zug nach Irún und Paris. Sein Gepäck lag am Bahnhof in einem Schließfach. Er stand fest auf dem Pflaster. Er las die Preise und dachte an seine Ersparnisse. Spanisch lernen, die Sprache, die er bisher Florence überlassen hatte. In der Stadt ihres heiligen Helden wohnen. Die Vorlesungen von Estefânia Espinhosa hören. Die Geschichte der vielen Klöster studieren. Prados Aufzeichnungen übersetzen. Die Sätze mit Estefânia durchsprechen, einen nach dem anderen.
    In der Agentur arrangierten sie drei Besichtigungstermine innerhalb der nächsten zwei Stunden. Gregorius stand in leeren Wohnungen, die hallten. Er prüfte die Aussicht, den Verkehrslärm, er stellte sich den täglichen Gang durchs Treppenhaus vor. Er gab für zwei Wohnungen eine mündliche Zusage. Dann fuhr er mit dem Taxi kreuz und quer durch die Stadt. » ¡Continue! « sagte er zum Fahrer. »¡Siempre derecho, más y más!«
    Als er schließlich wieder am Bahnhof war, verwechselte er erst das Schließfach und mußte schließlich rennen, um den Zug zu erwischen.
    Im Abteil nickte er ein und wachte erst wieder auf, als der Zug in Valladolid hielt.

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