Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
gar nicht vorgehabt, hier auszusteigen, sagte Gregorius. Dann habe er aber doch nicht widerstehen können. Das Bild von Prado, es sei so… so unvollständig ohne sie. Aber er wisse natürlich, daß es eine Zumutung sei, hier einfach hereinzuplatzen.
Sie trat ans Fenster. Das Telefon klingelte. Sie ließ es klingeln.
»Ich weiß nicht, ob ich das will«, sagte sie. »Über damals reden, meine ich. Auf keinen Fall hier. Kann ich das Buch mitnehmen? Ich möchte darin lesen. Nachdenken. Sie kommen abends zu mir nach Hause. Dann sage ich Ihnen, wie es mir damit geht.«
Sie gab ihm eine Karte.
Gregorius kaufte einen Führer und besichtigte Klöster, eines nach dem anderen. Er war kein Mann, der Sehenswürdigkeiten nachjagte. Wenn sich die Leute vor etwas drängten, pflegte er trotzig draußen zu bleiben; das entsprach seiner Gewohnheit, Bestseller erst Jahre später zu lesen. Und so war es auch jetzt nicht touristische Gier, die ihn trieb. Er brauchte bis in den späten Nachmittag hinein, bis er zu verstehen begann: Die Beschäftigung mit Prado hatte seine Empfindungen Kirchen und Klöstern gegenüber verändert. Kann es einen Ernst geben, der ernster ist als der poetische Ernst? , hatte er Ruth Gautschi und David Lehmann entgegengehalten. Das verband ihn mit Prado. Vielleicht war es sogar das stärkste Band. Doch der Mann, der sich aus einem glühenden Meßdiener in einen gottlosen Priester verwandelt hatte, schien einen Schritt weiter gegangen zu sein, einen Schritt, den Gregorius, während er durch Kreuzgänge schritt, zu verstehen suchte. War es ihm gelungen, den poetischen Ernst über die biblischen Worte hinaus auf die Gebäude auszudehnen, die von diesen Worten geschaffen worden waren? War es das ?
Wenige Tage vor seinem Tod hatte ihn Mélodie aus der Kirche kommen sehen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie. Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Das waren die Empfindungen seiner Jugend gewesen. Mit welchen Gefühlen hatte der Mann die Kirche betreten, der darauf wartete, daß die Zeitbombe in seinem Gehirn explodierte? Der Mann, dem nach der Reise ans Ende der Welt alles zu Asche geworden war?
Das Taxi, das Gregorius zu Estefânia Espinhosas Adresse brachte, mußte an einer Ampel warten. Er sah im Schaufenster eines Reisebüros ein Plakat mit Kuppeln und Minaretten. Wie wäre es gewesen, wenn er im blauen Morgenland mit seinen goldenen Kuppeln jeden Morgen den Muezzin gehört hätte? Wenn persische Poesie die Melodie seines Lebens mitbestimmt hätte?
Estefânia Espinhosa trug Bluejeans und einen dunkelblauen Seemannspullover. Trotz der grauen Strähnen sah sie aus wie Mitte vierzig. Sie hatte belegte Brote gemacht und goß Gregorius Tee ein. Sie brauchte Zeit.
Als sie sah, wie Gregorius’ Blick über die Bücherregale glitt, sagte sie, er möge ruhig näher herangehen. Er nahm die dicken Geschichtswerke in die Hand. Wie wenig er doch von der iberischen Halbinsel und ihrer Geschichte wisse, sagte er. Dann erzählte er von den Büchern über das Erdbeben von Lissabon und die Schwarze Pest.
Sie ließ ihn von der Altphilologie erzählen und fragte immer weiter. Sie wollte wissen, dachte er, was für ein Mensch es war, dem sie von der Reise mit Prado erzählen würde. Oder war es nur, daß sie noch mehr Zeit brauchte?
Latein, sagte sie schließlich, Latein sei in gewissem Sinne der Anfang gewesen. »Es gab diesen Jungen, diesen Studenten, der auf der Post aushalf. Ein schüchterner Junge, der in mich verliebt war und meinte, ich merke es nicht. Er studierte Latein. Finis terrae , sagte er eines Tages, als er einen Brief nach Finisterre in der Hand hielt. Und dann rezitierte er ein langes lateinisches Gedicht, in dem auch vom Ende der Welt die Rede war. Es gefiel mir, wie er da lateinische Poesie rezitierte, ohne mit dem Sortieren der Briefe aufzuhören. Er spürte, daß es mir gefiel, und machte immer weiter, den ganzen Vormittag lang.
Ich begann im Verborgenen, Latein zu lernen. Er durfte nichts davon wissen, er hätte es mißverstanden. Es war so unwahrscheinlich, daß jemand wie ich, ein Mädchen von der Post mit einer miserablen Schulbildung, Latein lernen würde. So unwahrscheinlich ! Ich weiß nicht, was mich mehr reizte: die Sprache oder diese Unwahrscheinlichkeit.
Es ging schnell, ich habe ein gutes Gedächtnis. Ich begann, mich für römische
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