Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Geschichte zu interessieren. Las alles, was ich kriegen konnte, später auch Bücher über portugiesische, spanische, italienische Geschichte. Meine Mutter war gestorben, als ich noch ein Kind war, ich lebte mit dem Vater, einem Eisenbahner. Er hatte nie Bücher gelesen, war erst befremdet, daß ich es tat, später stolz, ein rührender Stolz. Ich war dreiundzwanzig, als die P.I.D.E. ihn holte und wegen Sabotage nach Tarrafal brachte. Aber darüber kann ich nicht sprechen, auch heute noch nicht.
Jorge O’Kelly lernte ich einige Monate später bei einem Treffen des Widerstands kennen. Papás Verhaftung hatte sich in der Filiale der Post herumgesprochen, und zu meiner Verblüffung stellte sich heraus, daß eine ganze Reihe meiner Kollegen zur Widerstandsbewegung gehörten. Ich war, was politische Dinge anlangte, durch Papás Verhaftung schlagartig wach geworden. Jorge war ein wichtiger Mann in der Gruppe. Er und João Eça. Er verliebte sich Hals über Kopf in mich. Es schmeichelte mir. Er versuchte, aus mir einen Star zu machen. Ich hatte diese Idee mit der Schule für Analphabeten, wo sich alle unverdächtig treffen konnten.
Und da geschah es. Eines Abends betrat Amadeu den Raum. Danach war alles anders. Ein neues Licht fiel auf alle Dinge. Es ging ihm nicht anders, ich spürte es schon am ersten Abend.
Ich wollte es. Ich schlief nicht mehr. Ich ging in die Praxis, immer wieder, trotz der haßerfüllten Blicke seiner Schwester. Er wollte mich in die Arme nehmen, in seinem Inneren war eine Lawine, die sich jeden Moment lösen konnte. Doch er wies mich ab. Jorge, sagte er, Jorge. Ich begann, Jorge zu hassen.
Einmal klingelte ich um Mitternacht bei Amadeu. Wir gingen ein paar Straßen, dann zog er mich unter einen Torbogen. Die Lawine löste sich. ›Das darf nicht noch einmal passieren‹, sagte er nachher und verbot mir wiederzukommen.
Es wurde ein langer, quälender Winter. Amadeu kam nicht mehr zu den Treffen. Jorge war krank vor Eifersucht.
Es wäre übertrieben, wenn ich sagte: Ich habe es kommen sehen. Ja, das wäre übertrieben. Aber beschäftigt hat es mich schon, daß sie sich immer mehr ganz auf mein Gedächtnis verließen. ›Was ist, wenn mir etwas passiert‹, sagte ich.«
Estefânia ging hinaus. Als sie zurückkam, sah sie verändert aus. Wie vor einem Wettkampf, dachte Gregorius. Sie hatte sich, wie es schien, das Gesicht gewaschen, und das Haar war jetzt zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie stand am Fenster und rauchte mit hastigen Zügen eine ganze Zigarette, bevor sie weitersprach.
»Die Katastrophe trat Ende Februar ein. Die Tür ging viel zu langsam auf. Lautlos. Er trug Stiefel. Keine Uniform, aber Stiefel. Seine Stiefel, das war das erste, was ich im Türspalt sah. Dann das intelligente, lauernde Gesicht, wir kannten ihn, es war Badajoz, einer von Mendes’ Leuten. Ich tat, was wir oft besprochen hatten, und fing an, über das ç zu reden, es Analphabeten zu erklären. Ich konnte später lange Zeit kein ç sehen, ohne an Badajoz denken zu müssen. Die Bank knarrte, als er sich setzte. João Eça streifte mich mit warnendem Blick. Jetzt hängt alles von dir ab , schien der Blick zu sagen.
Ich trug, wie immer, meine durchsichtige Bluse, sie war sozusagen meine Arbeitskleidung. Jorge haßte sie. Jetzt zog ich die Jacke aus. Die Blicke von Badajoz auf meinem Körper, sie sollten uns retten. Badajoz schlug die Beine übereinander, es war widerlich. Ich beendete die Schulstunde.
Als Badajoz auf Adrião, meinen Klavierlehrer, zutrat, wußte ich, daß es aus war. Ich hörte nicht, was sie sprachen, doch Adrião wurde bleich, und Badajoz grinste hinterhältig.
Adrião kam von dem Verhör nicht mehr zurück. Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben, ich habe ihn nie wieder gesehen.
João bestand darauf, daß ich von nun an bei seiner Tante wohnte. Sicherheit, sagte er, es ginge darum, mich in Sicherheit zu bringen. Bereits in der ersten Nacht wurde mir klar: Es stimmte, aber es ging nicht nur um mich, sondern vor allem um mein Gedächtnis. Um das, was es preisgeben könnte, wenn sie mich hatten. In diesen Tagen traf ich mich ein einziges Mal mit Jorge. Wir berührten uns nicht, nicht einmal mit der Hand. Es war gespenstisch, ich verstand es nicht. Ich verstand es erst, als Amadeu mir erzählte, warum ich außer Landes müsse.«
Estefânia kam vom Fenster zurück und setzte sich. Sie sah Gregorius an.
»Was Amadeu über Jorge sagte – es war so monströs, so unvorstellbar grausam, daß
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