Nackt unter Wölfen
hatten das Anbringen der Karten geduldet und manchmal sogar eitel auf die Städte Russlands getippt, wenn sie guter Laune waren und die Siegesfanfaren schmetterten.
»Na, wo ist denn eure Rote Armee?«
Das war lange her.
Jetzt übersahen sie geflissentlich die Karten. Sie sahen auch nicht die Striche, die die Häftlinge darauf gezogen hatten. Dicke und dünne, blaue, rote und schwarze Striche.
Von tausend Fingern tausendmal abgegriffen, waren auf dem dünnen Zeitungspapier die Namen der ehemaligen Kampforte zu schwarzen Dreckflecken geworden. Gomel, Kiew, Charkow …
Wen interessierte das noch?
Jetzt ging es um Küstrin, Stettin, Graudenz, um Düsseldorf und Köln.
Aber auch diese Namen bestanden zum größten Teil schon aus aufgerauten Flecken. Wie oft war hier geschrieben, gestrichen, radiert und wieder geschrieben worden, bis das Zeitungspapier nichts mehr hergab.
Tausend mal tausend Finger waren an diesen Fronten entlanggestrichen, hatten sie verwischt und – ausgelöscht. Unaufhaltsam nahte das Ende!
Auch jetzt wieder, nachdem sich die tagsüber stillen Blocks mit dem Lärm der einströmenden Häftlinge gefüllt hatten, hingen Trauben von ihnen an den Karten.
Auf Block 38 zwängte sich Schüpp durch die Gruppe, die an Runkis Pult eine Karte studierte.
»Remagen. – Hier liegt es, zwischen Koblenz und Bonn.«
»Wie viel Kilometer sind das noch bis Weimar?«, fragte einer.
Schüpp machte ein erstauntes Gesicht, blinzelte, lief einem Gedanken nach. »Wenn die erst mal ’rankommen …«
Die Finger tasteten den künftigen Weg ab: Eisenach, Langensalza, Gotha, Erfurt …
Schüpps Gedanke hatte haltgemacht. »Wenn sie in Erfurt sind, dann sind sie auch in Buchenwald.«
Wann? In Tagen? In Wochen? In Monaten?
»Erst mal abwarten. Ich sehe schwarz für uns. Denkste, dass die da oben uns den Amerikanern überlassen! Die legen uns alle schon vorher um.«
»Mach dir nur nicht schon jetzt die Hosen voll«, verwies Schüpp den Skeptiker. Nervös fuhr der Stubendienst zwischen die Gruppe: »Möchtet ihr nicht gefälligst eure Fressschüsseln holen?«
Die Holzschuhe klapperten, die Schüsseln schepperten.Die SS hatte aus dem Haufen einen Marschzug formiert, der sich – eskortiert von der wilden Horde – nach dem Lager hin in Bewegung setzte, schwankend und taumelig.
Jankowski war es gelungen, in die Mitte eines Marschgliedes zu huschen, und entging so den Schlägen der dreinhauenden SS. Keiner im Zug kümmerte sich um seinen Nebenmann. Jeder war mit seiner eigenen Sorge vor dem Ungewissen angefüllt, das sie erwartete. Die Kranken und Erschöpften wurden aus der Gewohnheit eines tierisch gewordenen Erhaltungstriebes mitgeschleppt. So torkelte der Zug die Zugangsstraße entlang und durch das Tor ins Lager hinein.
Die vom Schlag betäubte Hand hing Jankowski am Gelenk wie etwas Fremdes und Feindliches, sie schmerzte entsetzlich. Die Aufmerksamkeit aber, die er seinem Koffer zuwenden musste, ließ Jankowski den Schmerz kaum spüren. Es galt, den Koffer auf jeden Fall sicher durch das Tor des neuen Lagers zu bringen.
Jankowski spähte mit flinken Augen um sich. Im Gedränge ließ er sich durch das enge Tor schieben. Seine Erfahrung half ihm, sich so geschickt zu verbergen, dass er, ohne die Aufmerksamkeit der SS auf sich zu lenken, mit dem Haufen unangefochten ins Lager strudelte.
Es war ein Wunder gewesen, dass er den Koffer überhaupt bis hierher gebracht hatte. Jankowski wies zitternd alle Gedanken ab, um das Wunder nicht zu verscheuchen. Nur an eines glaubte er mit heißer Inbrunst: Der barmherzige Gott wollte es sicher nicht zulassen, dass der Koffer in die Hände der SS geriet.
Auf dem Appellplatz ordnete sich der Haufen wieder.
Den letzten Rest der Kraft verbrauchte Jankowski, um mit einigermaßen sicheren Schritten im Zug zu marschieren, der jetzt ins Lager hineingeführt wurde. Nur nicht taumeln und torkeln, das fiel auf. Es sang und brauste Jankowski in denSchläfen, aber er hielt durch, und mit Erleichterung sah er, dass es Häftlinge waren, die den Zug begleiteten.
Auf dem freien Platz zwischen hohen Steingebäuden saßen bereits die Blockfriseure auf mitgebrachten Schemeln in langer Reihe, als der Zug anlangte. Hier gab es noch ein großes Gewirr. Die Neuangekommenen mussten sich entkleiden, um ins Bad zu gehen. Das ging nicht so einfach vor sich, denn ein Scharführer schrie und tobte unter den Zugängen und wirbelte sie durcheinander wie Hühner.
Als endlich Ruhe eingetreten und der
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