Nadel, Faden, Hackebeil
einem hässlichen Lungenleiden starb und ihr alles vermachte – nicht aus Liebe zu ihrer Nichte, sondern um die anderen Hinterbliebenen zu ärgern, die auf ein Erbe spekuliert hatten. Kiki war gewissermaßen in ein gemachtes Bett gekrochen. Und sie lebte gut davon. Der Nippes aus dem Laden – Solebonbons, Siederpuppen, Schwäbisch-Hällische Stofftierferkel – fand, zumindest in der Saison, also von Pfingsten bis zum Ende der Freilichtspiele, reißenden Absatz bei den Touristen.
Aber sonst? Sie hatte keinen Mann. Und auch keine Kinder. Nicht einmal einen Schoßhund.
Gut, sie hatte Lambert. Er rief sie nach Lust und Laune an, lud sich in ihre Drei-Zimmer-Wohnung über dem Laden ein und zog dann seine bewährte Macho-Nummer durch. Für ihn gab es nur eine einzige Stellung. Wie pflegte er zu scherzen? Liege ich oben, habe ich Höhenangst, liege ich unten, kriege ich Platzangst, liege ich auf der Seite, sehe ich nix im Fernseher! Folglich gab es ausnahmslos immer die Hündchenstellung. Variiert wurde nur die Stoßintensität. Er hatte ihr extra die Wände im Schlafzimmer mit Spiegeln auskleiden lassen, damit er sich dabei zusehen konnte. Und manchmal rief er mitten im Akt »von Bellingen, Lambert von Bellingen«. Früher einmal hatte sie das süß gefunden.
Früher hatte sie auch noch geglaubt, er würde seine Frau verlassen. Ja, das hatte sie wirklich und wahrhaftig geglaubt. Das Leben ist eben ein Klischee.
Und dann … war es irgendwann Gewohnheit geworden. Etwas, was man macht, weil man sich nichts anderes mehr vorstellen kann. Glücklich war sie damit nicht. Doch wer würde sie jetzt noch haben wollen, so, wie sie aussah? So alt?
Kiki zog mit den Daumen die Wangen und mit den Mittelfingern die Stirn nach hinten.
Schon besser. Wenn sie sich dazu noch die Lippen aufspritzen ließ? Hm. Sie drehte sich vor dem Spiegel. Ihre Figur ging noch als die einer Mittzwanzigerin durch, nicht zuletzt wegen der regelmäßigen Besuche im Ladyfitness-Studio. Nur das Gesicht fiel total ab. Da musste sie dringend was unternehmen.
Dringend!
Und danach würde sie Lambert in den Wind schießen und sich endlich etwas Wahrhaftiges suchen. Jemand, der vielleicht nicht ganz so reich und nicht ganz so prominent im Landkreis Hall war, der ihr aber ganz allein gehörte. Nicht nur privatim, auch öffentlich.
Aus Frosch Lambert würde niemals ein Prinz werden. Es war höchste Zeit, aus seinem Tümpel zu verschwinden und sich als strahlende, magisch verjüngte Prinzessin auf den Weg zu neuen Froschteichen zu machen.
Jawohl!
09 : 30 Uhr
Lieber viele Schulden als gar kein Geld
Er fühlte sich, als sei er beim Eisfischen im Eishockeystadion von der Eisputzmaschine platt gewalzt worden.
»Herr von Bellingen, haben Sie mich verstanden?« Der Anwalt legte die Stirn in Falten. »Es geht nicht länger um mangelhafte Liquidität. Wir sprechen von akuter Zahlungsunfähigkeit!«
Konstantin von Bellingen, von allen nur Konzi genannt, schien über seinem Nespresso Livanto Grand Cru mit Maronencremearoma in eine tiefe Zen-Meditation gefallen zu sein.
Da war er also, der Moment, den er seit Monaten gefürchtet hatte. Nun ja, nicht gefürchtet – wovor auch fürchten, ein von Bellingen fiel wie eine Katze immer auf die Beine. Aber er hatte diesem Moment doch mit einem gewissen säuerlichen Magenbrennen entgegengesehen.
»Herr von Bellingen, haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« Der Anwalt sah ungeduldig auf seine Armbanduhr. Zwar wurde er nach Stunden bezahlt, aber so, wie es aussah, würde Konstantin von Bellingen ihn demnächst gar nicht mehr bezahlen können.
»Ich habe doch Außenstände …«, fing Konzi an.
»Die aber in absehbarer Zeit nicht hereinkommen werden. Ab übernächstem Monat können Sie Ihren Zahlungsverpflichtungen nicht länger nachkommen. Wir haben keine andere Wahl – wir müssen Insolvenz anmelden.«
Konzi grummelte. Wieso passierte das ausgerechnet ihm? Warum dankte ihm das Schicksal nicht, dass er sich in Erfüllung seiner Pflicht selbstlos aufopferte? Er hatte den Familienforst weitergeführt, obwohl er sich seit frühester Jugend zum Maler berufen fühlte. Sein älterer Bruder Lambert, dessen Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, den Familienbetrieb zu leiten, tummelte sich ja lieber im Landtag. Es reichte eben nicht, dumm zu sein – man musste auch in die Politik gehen.
Und so hatte Konzi dem Vater auf dem Totenbett schwören müssen, dass er sich um die Verwaltung der Bellingschen Ländereien
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