Nadelstiche
fühlte, als wenn ihr irgendein Speichellecker mit Harvardabschluss und marineblauem Nadelstreifenanzug assistiert hätte. Heute hatte Kenneth seine Garderobe auf den dunkelgrünen Marmor abgestimmt, der Böden und Wände des imposanten Gerichtsgebäudes schmückte. Er trug einen nur wenig getragenen Anzug von Oscar de la Renta, den er bei eBay gekauft hatte, und grün-elfenbeinfarbene Schuhe mit dazu passender grüner Hornbrille. Sie schob ihm ein paar Akten über den Tisch zu. »Hier. Sortier die für mich. Ich will nicht nach meinen Notizen kramen müssen, wenn ich ihren sogenannten Experten im Zeugenstand hab.«
Sie setzte sich und beobachtete Lisnek eine Weile. So beschäftigt, wie er war, sich mit seinen Assistenten zu beraten, nahm er sie nicht mal zur Kenntnis. Ihr Mandant wurde von einem muskelbepackten Marshal hereingeführt und auf den Platz neben ihr bugsiert. Er trug die Kleidung, in der er verhaftet worden war – überweite Baggy-Jeans und ein schwarzes Baumwollhemd. Der Gerichtsdiener trat in den Saal, und Lisnek nahm blitzartig Haltung an. Endlich warf er auch einen Blick in ihre Richtung. Sie lächelte zuckrig. Der Staatsanwalt sah weg.
»Erheben Sie sich«, rief der Gerichtsdiener.
Showtime.
Manny und Lisnek tänzelten durch das Eröffnungsritual wie Fred Astaire und Ginger Rogers, jeder Schritt so vertraut, dass sie nicht mal mehr nachdenken mussten. Dann stand Lisnek auf und legte dar, warum Travis ohne Kaution in Haft bleiben sollte. »Eine terroristische Straftat gegen den Staat … möglicher Mitverschwörer, daher muss der Verdächtige isoliert bleiben … eine Frage der nationalen Sicherheit …« Er fand gar kein Ende.
Manny spürte, wie ihr das Adrenalin durch den Körper rauschte und sich ihr Magen verkrampfte. Das hier war stets die Bewährungsprobe von Prozessanwälten – die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Feind. Im Ernst, wie konnte Lisnek das alles sagen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken? Für Publicity würde der Mann wohl alles tun. Sie hatte schon öfter Mandanten gegen Anklagen verteidigt, die erstunken und erlogen waren, aber dieser Fall übertraf wirklich alles.
Auch der Richter hatte allmählich genug von Lisnek. Mit einer leichten Hebung der Hand unterbrach er den Ankläger mitten im Satz. »Sehr wortgewaltig, Mr Lisnek, aber das hier ist keine Generalprobe für ihr Eröffnungsplädoyer im Prozess. Ich glaube, Ms Manfreda hat einige Bedenken, was die Qualität Ihrer belastenden Beweise angeht, also fangen wir doch bitte mit Ihrem Sachverständigen an.«
Der Zeuge, Dr. Eugene Olivo, forensischer Odontologe, wurde aufgerufen und vereidigt. Bei einem Geschworenenprozess hätte Manny viel Zeit darauf verwendet, die Qualifikation des Zeugen zu belegen oder infrage zu stellen, weil Geschworene dazu neigten, jedes Wort zu glauben, das aus dem Munde eines Menschen kam, der sich Doktor oder Wissenschaftler schimpfte. Zum Glück war Richter Freeman nicht so leichtgläubig. Er saß seit über vierzig Jahren auf der Richterbank und hatte zahllose spektakuläre Prozesse geleitet, bei denen es um Mafiamorde, rechtsradikale Gewalttaten oder Drogenkartelle gegangen war. Inzwischen war er Senior-Richter, eine Position, die einem arbeitsreichen Ruhestand gleichkam und es ihm ermöglichte, seine Fälle selbst auszusuchen. Da ihm das hehre Ansehen seines Amtes einerlei war und er keinen Wert auf die Insignien der Macht legte, trug er auf der Richterbank auch nicht mehr die Robe. Dessen ungeachtet war er ein hoch angesehener Jurist, einer, den man nicht warten ließ – es sei denn, man war tot – und der gute Vorbereitung und Ehrlichkeit verlangte.
»Mir anderen Worten, Dr. Olivo«, sagte der Richter zu dem Sachverständigen, »für die Laien im Publikum, forensischer Odontologe ist eine hochtrabende Berufsbezeichnung für … Zahnarzt?«
»Nun ja, es kommt aus dem Griechischen, Euer Ehren.«
»Verstehe.« Eine Mischung aus Schnauben und Lachen ertönte von der Bank. »Können Sie dem Staat auf Griechisch mehr in Rechnung stellen?«
Touché. Der alte Freeman, Senior-Richter und so gut wie im Ruhestand, nahm Manny förmlich das Wort aus dem Munde.
In dem beruhigenden Gefühl, dass Richter Freeman ihr beim Kreuzverhör ziemlich viel Spielraum lassen würde, leimte Manny sich zurück und ließ Lisnek seinen Zeugen durch die Aussage führen. »Das durchschnittliche Gebiss eines Erwachsenen besteht aus zweiunddreißig Zähnen, einschließlich der vier
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