Nadelstiche
verderben zu lassen. Als ich klein war, wurde sie fuchsteufelswild, wenn sie mitbekam, dass ich nur ein paarmal in einen Apfel biss und ihn nicht aufaß. Wissen Sie, was sie dann gemacht hat? Sie hat ihn in Plastik eingewickelt auf den Tisch gelegt und versucht, mich zu überreden, den Rest am nächsten Tag zu essen. Das wollte ich aber nie. Wissen Sie, warum?«
Lisnek sprang auf. »Einspruch. Wir sitzen morgen noch hier, wenn Ms Manfreda weiter in alten Familienerinnerungen schwelgt, Euer Ehren.«
Aber Richter Freeman schmunzelte. »Verraten Sie uns, warum Sie ihn nicht essen wollten, Ms Manfreda.«
»Weil ein angebissener Apfel, der in Plastik eingewickelt in einer warmen Küche aufbewahrt wurde, am nächsten Tag ganz braun und matschig war. Die Fäulnis hatte begonnen. Ja, die Fäulnis hatte die Oberfläche der angebissenen Stellen völlig zersetzt.« Manny wirbelte herum, um sich von Kenneth etwas reichen zu lassen, wobei sie allen, die vorne im Gerichtssaal saßen, den Rücken zukehrte. Ein Raunen ging durch die Zuschauerbänke. Manny wandte sich so schwungvoll zu Olivo um, als wäre sie eine Kandidatin bei der Wahl zur Miss Universum und würde sich in einem knappen Bikini-Sarong vor den Preisrichtern drehen, um sich von ihrer besten Seite zu zeigen.
Sie hielt einen Apfel hoch, einen verfärbten, schrumpeligen, fauligen, übel riechenden braunroten Apfel. »Nur zu Ihrer Information, Sir, das ist ein Red Delicious.«
»Einspruch. Einspruch«, bellte Lisnek.
Sie achtete gar nicht auf ihn. Und Richter Freeman brachte vor Lachen keine Antwort heraus.
»Wie können Sie mit Gewissheit sagen, dass der Zahnabdruck in diesem Apfel von meinem Mandanten stammte, wenn der Apfel über zwölf Stunden unter ungeeigneten Lagerungsbedingungen vor sich hin gefault hatte?«
»Abgelehnt«, lautete die verspätete Entscheidung von der Richterbank, sodass Manny offiziell die Erlaubnis hatte weiterzumachen. Sie sah zu Lisnek hinüber. Er sollte sich wirklich mal Hemden mit nicht ganz so engen Kragen zulegen. Sein Kopf sah aus, als würde er jeden Moment vom Hals abplatzen.
Olivo geriet ins Stottern und lieferte irgendeine schlüssige Erklärung, die vor Fachjargon nur so strotzte. »Wissenschaftliche Gewissheit heißt lediglich, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist.«
Ha, damit war das schmutzige kleine Geheimnis aller Sachverständigen auf dem Tisch. Ihre Expertenmeinung war auch bloß reines Glücksspiel.
»Wollen Sie damit etwa sagen, dass Ihre Aussage als Sachverständiger, die zur Folge haben könnte, dass mein achtzehnjähriger Mandant ohne Kaution in Haft bleibt, seine schulische Ausbildung unterbrochen wird, sein Schulabschluss verhindert und –«
»Einspruch«, bellte Lisnek erneut, so laut, dass seine Stimme durch die Türen des Gerichtssaals drang und über den Flur gellte.
Richter Freeman hatte sich wieder erholt und sah sie an. »Okay, Ms Manfreda, genug der Rührseligkeit. Stellen Sie Ihre Frage.«
»– lediglich auf einer Möglichkeit basiert, die Sie an einem halb verfaulten Apfel festgestellt haben?«
Manny bearbeitete ihn weiter, widerlegte seine Behauptungen über die Verlässlichkeit von Bissspuren als Beweismittel mit Zitaten aus Artikeln über forensische Odontologie und mit jüngeren Gerichtsentscheiden, durch die Unschuldige aufgrund von fehlerhaften Bissspurenanalysen verurteilt worden waren.
Ehe sie ihr Kreuzverhör beendete, landete sie noch ein paar abschließende Treffer.
»Haben Sie den Apfel heute mitgebracht?«
»Nein.«
»Hat die Staatsanwaltschaft Sie angewiesen, ihn in Manhattan zu lassen?«
»Nein.«
Manny witterte, dass da etwas faul war, und zwar nicht bloß die von ihr mitgebrachte verbotene Frucht. Dieser ansonsten so geschwätzige Sachverständige war unversehens ausgesprochen einsilbig geworden.
»Wo befindet sich Ihr Apfel jetzt?«
»Er ist entsorgt worden. Nachdem wir die Abdrücke fotografisch dokumentiert hatten, bestand keine Notwendigkeit, ihn noch länger aufzubewahren.«
Stille breitete sich bei den Journalisten aus, die das Verfahren beobachteten. Sie meinte, Mrs Heaton aufkeuchen zu hören. Ihr Mandant hob den Arm und ergriff ihre Hand.
»Euer Ehren, ich beantrage, dieses gesamte Verfahren ebenso zu entsorgen. Die Bundesstaatsanwaltschaft hat dem Gericht diese wesentliche Tatsache bewusst vorenthalten. Vernichtung von Beweismitteln ist ein Grund für eine Einstellung des Verfahrens.«
Lisnek setzte zu einer Erwiderung an. Richter Freeman unterbrach ihn.
Weitere Kostenlose Bücher