Naechte am Rande der inneren Stadt
bis dahin mit großem Appetit gegessen hatte, und kleckerte mit der Soße, von der sie sich
drei Kellen auf die Kartoffeln und den Wirsingkohl kippte.
Oh Mann, dachte ich, das geht ja jetzt völlig daneben.
Eva, sagte ich und legte die Hand auf ihren Arm, aber es half nichts. Irgendwann merkte sie, dass Großvater sie erstaunt betrachtete.
Sie entschuldigte sich. Sie wurde still. Sie hatte es eilig fortzukommen.
Ich habe dir doch noch gar nicht mein Zimmer gezeigt, sagte ich enttäuscht.
Na gut, sagte sie, aber dann muss ich los.
|21| Geht ruhig, sagte Opa, ich mache die Küche und koche uns einen Kaffee, vielleicht können wir den noch zusammen trinken.
Kaum waren wir in meinem Zimmer, küsste Eva mich wie verrückt und überrumpelte mich auf der Stelle, das heißt im Sitzen auf
dem Sofa. Ich legte ihr die Hand auf den Mund, was sollte Opa denken? Aber ich wehrte mich nicht. Es war etwas so Verzweifeltes
in ihr, dem ich nicht widerstehen konnte. Niemals.
Von diesem Tag an fing ich an, sie zu bemuttern. Ich kaufte ein und kochte für uns in ihrer Wohnung im Wedding. Ich trug sie
manchmal die Treppen hoch, sie zappelte in meinen Armen und lachte. Ich deckte sie vor dem Einschlafen zu. Sie nahm es nach
dem ersten Sträuben an. Ich betete sie an, wenn sie die Augen schloss und sich mir überließ. Nur einmal, als ich sie zugedeckt
und die Küche aufgeräumt hatte und mich, um sie nicht zu stören, neben ihrem Bett auf dem Boden ausstreckte, fuhr sie, fast
eingeschlafen, wieder hoch.
Was gibt denn das? zischte sie. Spinnst du?
Und sie zerrte mich ins Bett.
Bei einem anderen Besuch in meinem Zimmer schlenderte sie langsam durch den Raum, strich mit der Hand über die Flächen und
sah sich alles genau an. Meinen Holztisch mit dem verschließbaren Rollo vor den Fächern, die alte schwarze Bürolampe, die
Bücher im Regal, den roten Teppich. Den Scherenschnitt von Kant, der leicht gebeugt steht und Hut und Stock in der zierlichen
Hand hält. Sie probierte den Drehstuhl aus, auf dem ich immer saß, und nahm das gerahmte Foto meiner Eltern in die Hand, das
auf meinem Schreibtisch stand.
Sind sie schon lange fort? fragte sie.
Sie sagte nicht: tot, sie sagte
fort
. Ich erzählte ihr von dem Unfall, bei dem ihnen ein Betrunkener von hinten ins Auto hineingefahren war. Mein Vater war auf
der Stelle tot gewesen. |22| Meine Mutter hätte vielleicht überleben können; doch nach wenigen Tagen im Krankenhaus versagte ihr Herz. Eva nickte, streichelte
mein Gesicht und griff mir in die Haare.
Du musst sie ein bisschen wachsen lassen, sagte sie.
Wenn ich an Eva denke, erinnere ich mich an lange Spaziergänge. Es war März, als es schon wärmer wurde, in jenem Jahr, das
weiß ich noch, es war in den Semesterferien. Wir schlenderten durch die Straßen. Ich zeigte Eva alte Parkbänke und mein Lieblingsantiquariat,
in dem es nach billigen Stumpen und Staub roch und in dem es Bücher gab, in denen noch die Vorkriegspreise standen. Eva war
die erste Person außer Opa, die sich über mein Interesse an den Berliner Fassaden nicht mokierte; sie machte mich sogar auf
Dinge aufmerksam, die ich nicht wusste. Sie zeigte auf die Ornamente unter den Dachtraufen und erklärte mir, dass sie ein
Verweis auf die kosmische Ordnung seien, in die der Mensch sich stellte, ein Schmuck, der an die Ewigkeit der Sterne erinnern
sollte. In den auf- und absteigenden Linien findest du Aufgang und Untergang, von Sonne und Mond, von Leben und Sterben, sagte
sie.
Berlin im Frühling ist wunderbar. Das Licht wirft bewegliche Muster auf Bürgersteige und Straßen, es flutet durch das zarte
Grün, es funkelt auf der Spree. Noch heute ist der Frühling die Zeit, in der ich am wenigsten das Gefühl habe, in einer Großstadt
zu leben. Es duftet nach Linden – wozu sich damals der Geruch nach Kohleöfen gesellte, wenn die Nächte kalt blieben und manchmal
noch lange geheizt wurde. Die Linden und die Kohlenabgase bilden ein einmaliges Gemisch, das über der ganzen Stadt hing, nur
dass im Osten schlechtere Briketts verwendet wurden. Mich zog es auch nach draußen, ich hatte Lust, lange zu laufen, ich schlug
Eva mehrmals vor, in den Grunewald zu fahren, aber sie sagte: Ich hasse den Wald, du brauchst es gar nicht zu versuchen.
Dafür saß sie gern in Biergärten, an der Schleuse im Tiergarten, am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg oder an der Spree |23| im Wedding. Sie schlürfte mit einem Strohhalm ihre
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