Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17
»Frau Ircher hat Sie operiert.«
Angesichts von Annikas offenkundiger Begriffsstutzigkeit ergänzte sie: »Frau Ircher, Ihre Bettnachbarin. Sie hat wahrscheinlich mitgehört, als die Schwester vom Frühdienst sagte, dass Sie operiert werden sollen. Bevor Sie in den OP-Saal gefahren werden konnten, hat Frau Ircher mit der Operation begonnen.«
Annika wusste nicht ob sie schrill kreischen oder in hysterisches, irres Gelächter ausbrechen sollte. Im Internet hatte sie gelesen, dass manche Patienten nach schweren operativen Eingriffen vor dem Erwachen aus der Narkose schreckliche Albträume durchlitten. Aber die Entfernung einer Zyste wie der ihren war angeblich minimalinvasiv. Weniger schwer konnte eine Operation kaum sein. Außer es gab massive Komplikationen.
»Es hätte Sie gefährdet, Frau Brohkamp, die Operation zu unterbrechen«, fuhr Schwester Hertwiga fort. »Deshalb haben wir abgewartet, bis Frau Ircher den Eingriff abgeschlossen hatte. Wir rätseln noch, was Frau Ircher zu ihrer Handlungsweise veranlasst hat. Möglicherweise Verdauungsstörungen. Um weiteren Eigeninitiativen vorzubeugen, haben wir die Patientin am Bett fixiert.«
»Es ist Schlafenszeit, Frau Brohkamp«, mahnte die Schwester. »Ich werde jetzt das Licht löschen.« Sie hatte schon die Hand am Schalter neben der Tür, als sie sich umdrehte.
»Ja bitte, Frau Brohkamp?«
Keuchend wiederholte Annika: »Ich … will einen Arzt sprechen.«
Schwester Hertwiga schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Die Schicht unserer Ärzte beginnt erst um Mitternacht.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beschwichtigte sie Annika. »Vielleicht hat Frau Ircher ja alles richtig gemacht.«
Das hysterische Gelächter lauerte jetzt unmittelbar unter der Oberfläche und konnte jeden Augenblick herausplatzen. Endlich wusste Annika, dass alles ein Albtraum war. Denn wie hätte Frau Ircher sie in Narkose versetzen sollen? Wie die Wunden zuklammern sollen? In der Vitrine waren nur ein paar rostige Skalpelle, Messer und Sägen gewesen. Aber das stärkste Indiz war: Sie verspürte überhaupt keine Schmerzen!
»Alles … richtig … gemacht?«, brachte sie hervor.
»Ich meine, vielleicht ist die Zyste jetzt draußen.«
Annika blickte auf ihren von langen Schnitten kreuz und quer durchpflügten Bauch.
»Um die Zyste rauszunehmen, hätte natürlich auch ein kleiner Schnitt genügt«, räumte die Schwester ein. »Aber vielleicht hat Frau Ircher ja auch etwas hineingetan.«
Sie löschte das Licht.
Im selben Moment brach kreischendes, heulendes Gelächter aus Annika hervor und durchtobte die Dunkelheit.
Das Licht flammte wieder auf. Schwester Hertwiga marschierte zum Bedarfsschrank des Patientenzimmers und nahm etwas heraus. Dann trat sie an Annikas Bett und beugte sich über sie.
»Wollen Sie denn unbedingt die alte Frau aufwecken?«, fauchte sie.
Schwester Hertwiga war unglaublich stark. Sie zwängte Annika den Knebel in den Mund, zog die Riemen straff um Annikas Wangen und schnallte sie im Nacken fest.
Drei Minuten nachdem Annikas Gelächter erstickt war, schaltete Schwester Hertwiga das Licht aus und zog die Tür hinter sich zu. Der Raum blieb in schweigender Finsternis zurück.
*
Annikas Hände krallten fieberhaft am Knebel herum. Aber er war zu straff angelegt, um die Finger zwischen Haut und Riemen graben zu können. Ihre Nägel scharrten über das widerstandsfähige Gewebe. Sie speichelte, würgte, stemmte die eingezwängte Zunge gegen die Kugel zwischen ihren Zähnen. Doch die Anstrengung und Annikas Panik verstärkten nur die Atemnot, die der Knebel ohnehin verursachte.
Sobald sie wieder Luft bekam, betastete Annika ihren Bauch. Noch immer spürte sie die Verletzungen nicht. Erst als ihre Fingerspitzen leichten Druck ausübten, empfand sie einen stechenden Schmerz.
Annika begann am ganzen Leib zu zittern. Tränen rannen über ihr Gesicht.
Jetzt vernahm sie Geräusche in der Dunkelheit. Sie kamen vom Nachbarbett. Ein Knarren und Quietschen der Bettmechanik, ein Rascheln des Lakens, ein Reiben und Knirschen und Scharren. Offenbar versuchte auch Frau Ircher, sich von ihren Fesseln zu befreien.
Das musste – musste – m-u-s-s-t-e! – ein Albtraum sein. Aber es war einer, aus dem sie einfach nicht erwachte.
Im selben Moment ging an der gegenüberliegenden Wand ein Fenster auf, und ein matter blauer Schein durchdrang die Dunkelheit des Patientenzimmers.
Der Fernseher war angesprungen.
Das Bild war monochrom, die Einstellung statisch, und es gab
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