Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
dunklen Raum, senkte sie die Augen in die Erde auf der Suche nach Pflanzen, die sich verdreht wanden wie Nattern. Etwas blinkte in der Nacht, spähte und spähte, die Augen eines liegenden Hundes, der Wache hielt. Die Stille klopfte in ihren Adern, und sie keuchte mit ihr. Danach brach der Morgen über den Wiesen an, rosafarben, feucht. Die Pflanzen waren erneut grün und arglos, mit bebendem, windempfindlichem Stängel, auferstanden vom Tode. Kein Hund bewachte mehr den Hof, jetzt war alles eins, schwerelos, ohne Bewusstsein. Da stand noch ein Pferd frei auf der stillen Weide, man konnte die Beweglichkeit seiner Beine nur erahnen. Alles unbestimmt, aber plötzlich traf sie in der Unbestimmtheit auf eine Deutlichkeit, die sie nur gespürt hatte und nicht ganz in Besitz nehmen konnte. Verwirrt hatte sie gedacht: Alles, alles. Die Wörter sind Kieselsteine, die im Fluss rollen. Es war nicht Glück gewesen, was sie damals empfunden hatte, aber was sie empfunden hatte, war fließend gewesen, von sanfter Formlosigkeit, leuchtender Augenblick, düsterer Augenblick. Düster wie das Haus an der Straße, das von dichtbelaubten Bäumen und dem Staub der Wege bedeckt war. Dort wohnte ein alter, barfüßiger Mann mit zwei Söhnen, große und gut gewachsene Zuchthengste. Der Jüngere hatte Augen, vor allem Augen, er hatte sie einmal geküsst, einer der besten Küsse, die sie jemals gespürt hatte, und irgendetwas stieg aus der Tiefe seiner Augen auf, wenn sie ihm die Hand hinstreckte. Dieselbe Hand, die jetzt auf der Stuhllehne ruhte wie ein kleiner, eigenständiger Körper, gesättigt, nachlässig. Als Kind hatte sie ihre Hand immer wie ein kleines, zartes Mädchen tanzen lassen. Sie hatte sie sogar für den Mann tanzen lassen, der geflohen oder verhaftet worden war, für den Geliebten – denn sie hatte einmal einen Geliebten gehabt –, und er, fasziniert und geängstigt, hatte sie schließlich gedrückt, geküsst, als sei die Hand für sich eine richtige Frau. Oh, sie hatte viel erlebt, den Hof, den Mann, die Zeiten des Wartens. Ganze Sommer, wenn die Nächte schlaflos vorüberzogen, sie bleich zurückließen, mit dunklen, ausgehöhlten Augen. Innerhalb der Schlaflosigkeit, unterschiedlicher Schlaflosigkeiten. Sie hatte Düfte kennengelernt. Einen Geruch von feuchtem Gemüse, Gemüse, das von Lichtern erhellt wird, wo? Sie war damals auf die feuchte Erde der Blumenbeete getreten, wenn der Wächter nicht aufpasste. Lichter, die von Kabeln herabhingen, schwankend, genau so, gleichgültig nachdenkend, Musik einer Kapelle im Pavillon, die Schwarzen verschwitzt in Uniformen. Die beleuchteten Bäume, die kalte, künstliche Luft von Prostituierten. Und vor allem gab es etwas, was man nicht sagen darf: hinter dem Vorhang hervorspähende Augen und Mund, hin und wieder aufblitzende Augen eines Hundes, ein schweigsam und unwissend dahinfließender Fluss. Ebenfalls: die aus Keimen wachsenden und dann sterbenden Pflanzen. Ebenfalls: weiter weg, irgendwo ein Spatz auf einem Zweig, und jemand, der schlief. Alles aufgelöst. Auch der Hof existierte in jenem selben Augenblick, und in jenem selben Augenblick sprang der Zeiger der Uhr vor, während das verdutzte Gefühl sich von der Uhr überholt sah.
In sich fühlte sie die erlebte Zeit sich von neuem aufstauen. Das Gefühl war fließend wie die Erinnerung an ein Haus, in dem man gelebt hat. Nicht das Haus selbst, sondern die Lage des Hauses in ihr selbst, in Bezug auf den Vater, der an der Schreibmaschine sitzt, den Garten des Nachbarn und die Sonne am späten Nachmittag. Vage, fern, stumm. Ein Moment … vorbei. Und sie würde nicht erfahren, ob nach dieser erlebten Zeit eine Fortsetzung käme oder eine Erneuerung oder gar nichts, wie eine Barriere. Niemand hinderte sie daran, genau das Gegenteil dessen zu tun, was sie tun würde: niemand, nichts … Sie war nicht verpflichtet, dem eigenen Anfang zu folgen … Schmerzte das oder freute es sie? Und dennoch fühlte sie, dass diese merkwürdige Freiheit, die ihr Fluch gewesen war, die sie nicht einmal mit sich selbst verbunden hatte, diese Freiheit war es, die ihre Materie erleuchtete. Und sie wusste, dass von dort ihr Leben kam und die Momente des Hochgefühls, und von dort kam die Erschaffung jedes zukünftigen Augenblicks.
Sie hatte wie ein noch feuchter Keim zwischen glühend heißen, trockenen Felsen überlebt, dachte Joana. An jenem schon alten Nachmittag – ein Lebenskreis hatte sich geschlossen, die Arbeit war beendet –, an jenem
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