Namibische Nächte (German Edition)
adoptieren?« Ihre Mutter schien zu überlegen. »Geht das denn so einfach?«
»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, sagte Vanessa. »Die Idee kam mir eben erst. Lass uns an Weihnachten darüber reden. Wenn ich nach Hause komme.«
»Ich finde die Idee immer besser«, erwiderte ihre Mutter. »Sag mal, der junge Mann damals, vor ein paar Jahren, kam der nicht aus Afrika? Aber er war nicht schwarz.«
Vanessa schluckte. »Nein, eher im Gegenteil«, sagte sie.
»Was ist eigentlich aus dem geworden?«, fragte ihre Mutter. »Er war so höflich und wohlerzogen. So was findet man heute ja gar nicht mehr. Er hat einen guten Eindruck auf mich gemacht, auch wenn ich ihn nur einmal gesehen habe.«
»Ich . . . Er ist nach Afrika zurückgegangen«, brachte sie mühsam hervor.
»Wie schade«, sagte ihre Mutter. »Er war der Traum aller Schwiegermütter.« Sie lachte. »Aber das bedeutet ja meistens, dass er nicht der Traum der Töchter ist.«
In diesem Fall schon, dachte Vanessa. »Das ist lange her«, sagte sie.
»Dann kommst du Heiligabend zu uns?«, fragte ihre Mutter. »Oder schon vorher?«
»Heiligabend.« Vanessa dachte nach. »Ja, ich kann nicht früher«, setzte sie hinzu, als sie in Gedanken noch einmal ihren Terminkalender durchgegangen war. »Tut mir leid. Aber seit ich aus dem Urlaub zurück bin, bin ich mit diesem großen Auftrag für die Versicherungsgesellschaft beschäftigt. Und der Auftraggeber verlangt, dass das noch vor Weihnachten fertig wird. Dabei ändert er dauernd etwas, und ich muss wieder von vorn anfangen. Er macht mich wahnsinnig mit seinen Ansprüchen.« Sie stöhnte. Conny, irgendwann bringe ich dich dafür um.
»Du Arme«, sagte ihre Mutter. »Na, dann geht es eben nicht anders. Heiligabend. Papa würde sich freuen, wenn du nicht allzu spät kommst. Er ist schon ganz gespannt auf deine Erzählungen aus Afrika.«
Da muss ich mir aber ganz genau überlegen, was ich erzähle . »Leider hatte ich meine Kamera vergessen«, entgegnete sie. »Ich habe nur ein paar Fotos mit dem Handy gemacht.«
»Das reicht doch«, sagte ihre Mutter. »Viel wichtiger ist, dass du da bist und erzählst. Du hast ja sicher das eine oder andere erlebt.«
Das eine oder andere. Ja, so könnte man sagen. »Dann bis Heiligabend, Mama«, erwiderte sie. »Gib Papa einen Kuss von mir.«
»Mach ich. Bis Heiligabend.« Ihre Mutter legte auf.
Vanessa schaute aus ihrem Büro hinaus. An den Fenstern rann der Regen in langen Schlieren herunter. Die Heizung lief auf Hochtouren. Trotzdem trug sie einen Pullover und lange Hosen. Sie hatte das Gefühl, seit sie aus Namibia zurückgekehrt war, war ihr nie mehr warm geworden.
Sie atmete tief durch und wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu.
»Kling, Glöckchen, klingelingeling. Kling, Glöckchen, kling.«
Aus dem Autoradio drang Weihnachtsmusik, während Vanessa auf dem Weg zu ihren Eltern über die Autobahn fuhr. Sie freute sich auf ein paar entspannte Tage. Ihre Mutter würde kochen, ihr Vater seine Pfeife rauchen und dafür sorgen, dass alles im Haus funktionierte, sie brauchte sich um nichts zu kümmern.
Sie war später losgefahren, als sie beabsichtigt hatte, es war schon fast acht. Ihr anspruchsvoller Kunde hatte sie selbst heute noch mit Änderungen bestürmt. Sie fragte sich, ob er keine Familie hatte, die ihn an Weihnachten erwartete.
Familie. Sie dachte an ihre Eltern. Sie waren die liebsten Eltern, die man sich denken konnte, aber sie war kein kleines Kind mehr. Ihre Mutter hatte Recht. Langsam war es mal Zeit für eine eigene Familie.
Sie fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Nein, das durfte sie sich gar nicht vorstellen. Mit Kian gemeinsam unter dem Weihnachtsbaum.
Im Radio begannen jetzt echte Glocken zu läuten. Es dröhnte ihr in den Ohren. Sie stellte das Radio ab.
Weihnachten. Familie. Weihnachten. Familie. Weihnachten.
Sie bog von der Autobahn in Richtung Flughafen ab.
» Was wollen Sie?« Die Angestellte vom Bodenpersonal schaute Vanessa ungläubig an.
»Ich will ein Ticket. Nach Windhoek. Für den Flug heute Abend.«
Der Gesichtsausdruck der Angestellten zeigte deutlich, dass sie fand, dass Vanessa nicht recht bei Trost war, aber sie sagte es nicht. »Der Flug ist ausgebucht. Schon seit Wochen«, antwortete sie. »Da hätten Sie früher buchen müssen.«
»Kommt es nicht manchmal vor, dass jemand nicht mitfliegt?«, fragte sie. »Sie haben doch bestimmt eine Warteliste.«
»Ja, schon . . .« Die Angestellte schien skeptisch. »Aber
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