Naokos Laecheln
dem Rücken immer weiter die Küste nach Westen entlang.
An einem stürmischen Abend, als ich, in meinen Schlafsack gehüllt, weinend im Schutz eines verlassenen Wracks lag, kam ein junger Fischer vorbei, bot mir eine Zigarette an – meine erste seit ungefähr zehn Monaten – und erkundigte sich nach dem Grund meiner Tränen. Meine Mutter sei gestorben, log ich fast automatisch. Ich könne den Kummer nicht ertragen, deshalb sei ich unterwegs. Sein Mitgefühl kam aus tiefster Seele, und er holte von zu Hause eine große Flasche Sake und zwei Gläser.
Wir tranken, während der Wind über den Sand fegte. Seine Mutter sei auch gestorben, sagte der junge Fischer, als er sechzehn war. Obwohl von zarter Gesundheit, hatte sie sich von früh bis spät abgerackert und war daran gestorben. Das Glas in der Hand, lauschte ich benommen seiner Geschichte und brummte hin und wieder etwas, um meine Aufmerksamkeit zu zeigen. Seine Worte schienen aus einer ganz anderen Welt kommen. Wovon sprach der Mann überhaupt? Plötzlich ergriff mich eine so heftige Wut, daß ich ihn hätte erwürgen können. Was redest du da von deiner Mutter? Ich habe Naoko verloren! Ihr schöner Leib ist von der Erde verschwunden! Und du erzählst mir von deiner Mutter?
Doch ebenso rasch war mein Zorn wieder verflogen. Mit geschlossenen Augen hörte ich geistesabwesend der scheinbar endlosen Geschichte des Fischers zu. Schließlich fragte er, ob ich schon etwas gegessen hätte. Nein, aber in meinem Rucksack seien Brot, Käse, Tomaten und Schokolade. Was ich zu Mittag gegessen hätte? Brot, Käse, Tomaten und Schokolade. Bevor ich ihn noch zurückhalten konnte, forderte er mich auf zu warten, rannte los und verschwand in der Dunkelheit, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als allein weiterzutrinken. Der Sand war mit den Überresten von Feuerwerkskörpern übersät, die Wellen brüllten wie in wildem Zorn und krachten donnernd an den Strand. Ein magerer Hund umschnüffelte schwanzwedelnd mein kleines Feuer nach etwas Eßbarem, gab aber bald auf und trollte sich.
Nach einer halben Stunde kehrte der junge Fischer mit zwei Schachteln Sushi und einer neuen Flasche Sake zurück und riet mir, die eine, die frischen Fisch enthielt, gleich zu verzehren. In der anderen waren nur Seetang-Rollen und fritierter Tōfu, die auch am nächsten Tag noch gut schmecken würden. Nachdem er uns beiden Sake aus der frischen Flasche eingeschenkt hatte, bedankte ich mich bei ihm und verdrückte eine Menge Sushi, die für zwei Personen gereicht hätte. Als wir solange getrunken hatten, bis wir nicht mehr konnten, bot er mir an, in seinem Haus zu übernachten, aber als ich ihm sagte, ich zöge es vor, allein am Strand zu schlafen, drängte er mich nicht weiter. Beim Abschied zog er einen gefalteten Fünftausend-Yen-Schein hervor und stopfte ihn in meine Brusttasche. »Kauf dir was Anständiges zu essen«, sagte er. »Du siehst schauderhaft aus.« Ich protestierte, er habe schon genug für mich getan, so daß ich nicht auch noch sein Geld annehmen könne, aber er weigerte sich strikt, es zurückzunehmen. »Das ist kein Geld, nur mein Gefühl«, sagte er. »Also nimm’s schon und denk nicht drüber nach.« Mir blieb nichts weiter übrig, als mich zu bedanken und das Geld zu behalten.
Nachdem der junge Fischer gegangen war, fiel mir unvermittelt das Mädchen aus der zwölften Klasse ein, mit dem ich zum ersten Mal geschlafen hatte. Als ich daran dachte, wie schlecht ich sie behandelt hatte, grauste mir. Ich hatte kaum einen Gedanken an ihre Gefühle verschwendet oder daran, ob ich ihr wehtat. Erst jetzt kam sie mir wieder in den Sinn. Sie war ein sehr liebes Mädchen gewesen, aber ich hatte ihr liebes Wesen als selbstverständlich hingenommen und mich nicht einmal nach ihr umgewandt. Was wohl aus ihr geworden war? Ob sie sich noch an mich erinnerte?
Auf einmal überrollte mich eine Welle von Übelkeit, so daß ich mich neben dem Wrack übergeben mußte. Von dem vielen Sake hatte ich Kopfschmerzen. Außerdem fühlte ich mich hundsmiserabel, weil ich den jungen Fischer angelogen und dann auch noch sein Geld genommen hatte. Es wurde Zeit für mich, allmählich nach Tōkyō zurückzukehren. So konnte es ja nicht bis in alle Ewigkeit weitergehen. Ich rollte meinen Schlafsack zusammen, setzte meinen Rucksack auf und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Am Schalter erklärte ich, daß ich so bald als möglich nach Tōkyō wolle. Der Beamte sah im Fahrplan
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