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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nach und erklärte mir, ich könne einen Nachtzug nehmen und mit entsprechenden Anschlüssen am Morgen in Ōsaka sein. Von dort sei ich mit dem Superexpreß ruckzuck in Tōkyō. Ich bedankte mich und kaufte mit dem Fünftausend-Yen-Schein des jungen Fischers eine Fahrkarte nach Tōkyō. Während ich auf den Zug wartete, holte ich mir eine Zeitung, um das Datum zu erfahren: Es war der 2. Oktober 1970. Also war ich seit einem Monat unterwegs. Mir wurde klar, daß ich wieder in die Wirklichkeit zurückkehren mußte.
    Die Reise hatte meine Stimmung nicht im geringsten gehoben und auch nicht den Schlag, der Naokos Tod für mich bedeutete, gemildert. Der Zustand, in dem ich wieder in Tōkyō ankam, unterschied sich kaum von meinem vorherigen. Ich schaffte es nicht einmal, Midori anzurufen. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Wie anfangen? »Alles ist vorbei. Jetzt können wir beide glücklich werden«? Das war ausgeschlossen. Wie immer ich es formulieren würde, eine Tatsache blieb letztendlich bestehen. Naoko war tot, Midori lebendig. Naoko war ein Häufchen weißer Asche, Midori das blühende Leben. Ein Gefühl der Schmach überkam mich. Nun war ich zwar wieder in Tōkyō, verbrachte aber meine Tage allein und eingeschlossen in meiner Wohnung. Meine Gedanken weilten kaum bei den Lebenden, sondern weiterhin bei den Toten. Die Räume in meinem Gehirn, die Naoko vorbehalten waren, blieben verdunkelt, die Möbel mit weißen Tüchern verhängt und die Fensterbretter staubig. Dennoch verbrachte ich den Großteil des Tages darin. Und ich dachte an Kizuki. »He, Kizuki, jetzt hast du’s geschafft. Naoko ist bei dir. Sie hat ja sowieso zuerst dir gehört. Also ist sie vielleicht endlich am Ort ihrer Bestimmung angelangt. Aber auf der Erde, in unserer unvollkommenen Welt der Lebenden habe ich mein Bestes für Naoko gegeben. Ich hab mich bemüht, ein neues Leben für uns aufzubauen. Ist schon gut, Kizuki. Ich lasse dir Naoko. Sie hat sich für dich entschieden und sich in einem Wald aufgehängt, so düster wie ihr Herz. Damals vor langer Zeit hast du einen Teil von mir mit dir ins Reich der Toten gelockt. Und jetzt hat Naoko das gleiche getan. Manchmal komme ich mir vor wie ein Museumswächter, der die leeren Säle eines Museums bewacht, das keine Besucher hat, nur weil er es nicht verlassen kann.«
    Am vierten Tag meiner Rückkehr nach Tōkyō erhielt ich einen Eilbrief knappen Inhalts von Reiko: »Ich kann Sie nicht erreichen und mache mir Sorgen. Bitte, rufen Sie mich an. Ich warte um neun Uhr morgens und neun Uhr abends am Telefon.«
    Am selben Abend rief ich sie um neun Uhr an. Reiko hob sofort ab.
    »Wie fühlen Sie sich?« fragte sie.
    »Naja, es geht so«, erwiderte ich.
    »Kann ich mich übermorgen mit Ihnen treffen?«
    »Treffen? Hier in Tōkyō?«
    »Was denn sonst. Ich möchte mich mal in Ruhe mit Ihnen unterhalten.«
    »Verlassen Sie denn das Heim?«
    »Sonst könnte ich Sie ja nicht besuchen«, sagte sie. »Es wird auch langsam Zeit, daß ich hier rauskomme. Immerhin bin ich jetzt acht Jahre hier. Wenn ich noch länger bleibe, fange ich an zu faulen.«
    Da mir dazu nichts einfiel, schwieg ich.
    »Ich komme übermorgen mit dem Superexpreß um 15 Uhr 20 an. Können Sie mich abholen? Wissen Sie überhaupt noch, wie ich aussehe? Oder haben Sie jetzt, wo Naoko tot ist, kein Interesse mehr an mir?«
    »Unsinn«, sagte ich. »Also dann bis übermorgen 15 Uhr 20 auf dem Bahnhof.«
    »Sie können mich nicht verfehlen. Eine Dame in mittleren Jahren mit Gitarrenkasten.«
    Trotz des Gewimmels auf dem Bahnhof entdeckte ich Reiko auf Anhieb. Sie trug ein Herrenjackett aus Tweed, eine weiße Hose und rote Turnschuhe. Ihre kurzen Haare standen wie üblich in alle Richtungen zu Berge. In der rechten Hand trug sie einen braunen Koffer und in der linken ihren schwarzen Gitarrenkasten. Als sie mich erkannte, breitete sich ein so strahlendes, knittriges Lächeln auf ihrem Gesicht aus, daß auch ich unwillkürlich lächeln mußte. Ich nahm ihren Koffer, und wir gingen zur Haltestelle der Chūō-Linie.
    »Herr Watanabe, seit wann sehen Sie denn so furchtbar aus? Oder ist das momentan in Tōkyō so Mode?«
    »Ich war eine Weile unterwegs und hab mich schlecht ernährt«, erklärte ich. »Wie war’s im Superexpreß?«
    »Scheußlich! Man kann ja nicht einmal die Fenster öffnen. Ich wollte mir doch einen Imbiß bei einem der Händler auf dem Bahnsteig kaufen.«
    »Kriegt man doch jetzt alles im Zug.«
    »Sprechen Sie etwa von den

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