Naokos Laecheln
und von den Fischern kaufte ich mir getrockneten Fisch zum Braten. Zum Nachtisch trank ich Whiskey und dachte an Naoko, während ich dem Rauschen der Wellen zuhörte. Es war unbegreiflich für mich, daß sie tot war und in meiner Welt nicht mehr existierte. Ich konnte die Wahrheit einfach noch nicht fassen. Sie war nicht wirklich für mich, und obwohl ich mit eigenen Ohren gehört hatte, wie man die Nägel in Naokos Sarg schlug, konnte ich mich an die Tatsache, daß sie ins Nichts zurückgekehrt war, nicht gewöhnen.
Ihr Bild war mir einfach noch zu lebhaft im Gedächtnis. Ich sah noch vor mir, wie sie meinen Penis sanft mit ihrem Mund umschloß, während ihr Haar sich über meinen Bauch breitete. Immer noch fühlte ich ihre Wärme, ihren Atem auf meiner Haut, als mich dieser unaufhaltsame Orgasmus überkam. Alles stand mir so deutlich vor Augen, als sei es erst vor fünf Minuten geschehen. Dann hatte ich das Gefühl, daß Naoko neben mir lag, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren. Aber sie war ja nicht mehr da. Ihr Körper existierte nicht mehr.
In meinen vielen schlaflosen Nächten suchten mich die Bilder von Naoko heim. Ich vermochte die Erinnerungen nicht aufzuhalten. Es waren zu viele, die sich in meinem Innern festgesetzt hatten, und kaum hatte eine die geringste Öffnung gefunden, strömten die anderen hinterher in einer Flut, die ich nicht eindämmen konnte.
Ich sah, wie sie an jenem regnerischen Morgen in ihrem gelben Regencape die Voliere saubermachte und den Futtersack schleppte. Ich dachte an den eingesunkenen Geburtstagskuchen und an ihre Tränen, die mein ganzes Hemd durchweicht hatten (auch damals hatte es geregnet). Da war Naoko, wie sie im Winter in ihrem Kamelhaarmantel neben mir ging; wie sie an ihrer allgegenwärtigen Haarspange herumspielte; wie sie mich mit ihren ungewöhnlich klaren Augen ansah; wie sie mit angezogenen Beinen, das Kinn auf die Knie gestützt, in ihrem blauen Nachthemd auf dem Sofa saß.
Eines nach dem anderen überschwemmten mich die Bilder wie die Wellen der Flut und spülten mich hinweg an einen geheimnisvollen Ort, an dem ich mit den Toten lebte. Dort war auch Naoko lebendig, sprach mit mir und ließ sich in die Arme nehmen. An jenem Ort war der Tod nicht das unwiderrufliche Ende des Lebens, sondern nur eines von vielen Elementen, die das Leben ausmachten. Den Tod in sich tragend, lebte Naoko dort weiter. Und ich hörte ihre Stimme sagen: »Es ist alles gut, Tōru. Es ist nur der Tod. Mach dir keine Gedanken.«
An jenem Ort empfand ich keine Trauer, weil der Tod der Tod und Naoko dennoch Naoko war. »Was ist los? Jetzt bin ich eben hier«, sagte sie mit ihrem schüchternen Lächeln, dessen vertrauter Anblick mein verzweifeltes Herz tröstete. Wenn das der Tod ist, dann ist er gar nicht so übel, dachte ich mir. »Stimmt genau«, sagte Naoko. »Sterben ist nichts Besonderes. Es ist eben nur der Tod. Außerdem ist hier alles sehr viel leichter für mich.« Naoko sprach zu mir in den Intervallen, in denen sich die dunklen Wellen am Ufer brachen.
Letzten Endes zog sich die Flut wieder zurück, und ich blieb allein am Strand. Ich war hilflos, wußte nicht wohin, und in der Dunkelheit der Nacht ergriff eine abgrundtiefe Trauer von mir Besitz. Oft mußte ich weinen, doch meine Tränen perlten auf eine mechanische Weise aus meinen Augen, die eher dem Austreten von Schweißtropfen glich.
Aus Kizukis Tod hatte ich etwas gelernt und mich damit abgefunden. Oder redete es mir zumindest ein. »Der Tod existiert nicht als das Gegenteil des Lebens, sondern ist ein Bestandteil desselben.«
So lautet die unumstößliche Wahrheit des Lebens. Indem wir leben, züchten wir gleichzeitig unseren Tod heran. Doch in dieser Erkenntnis liegt nur ein Teil der Wahrheit, mit der wir uns abfinden müssen. Aus Naokos Tod lernte ich noch etwas ganz anderes. Ich lernte, daß nicht die wahrste Wahrheit den Schmerz zu lindern vermag, den wir beim Verlust eines geliebten Menschen empfinden. Weder Erkenntnis, noch Aufrichtigkeit, noch Kraft, noch Güte können diesen Kummer heilen. Wir können ihn nur durchleiden und etwas daraus lernen. Doch das, was wir daraus lernen, hilft uns nicht beim nächsten Kummer, der uns ohne Vorankündigung überfällt. Einsam den nächtlichen Wellen und dem Rauschen des Windes lauschend, hing ich Tag um Tag meinen düsteren Gedanken nach. Ich ernährte mich von Whiskey, Wasser und Brot und wanderte mit Sand in den Haaren und meinem Rucksack auf
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