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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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des Lebens anpassen. Ich bin nur eine hilflose, unfähige Person, aber selbst ich finde das Leben dann und wann herrlich. Glauben Sie mir! Also, werden Sie sehr, sehr glücklich. Strengen Sie sich an, glücklich zu werden!
    Natürlich bedaure ich es, daß es für Sie und Naoko kein Happy-End geben wird. Aber wer weiß schon, wozu was gut ist. Deshalb sollten Sie ohne allzu viel Rücksichtnahme nach dem Glück greifen, wenn es sich Ihnen bietet. Aus Erfahrung weiß ich, daß wir nie mehr als zwei oder drei solcher Gelegenheiten erhalten und daß wir es möglicherweise für den Rest unseres Lebens bereuen, wenn wir sie versäumen.
    Ich spiele jetzt nur noch für mich Gitarre, was mich ganz schön langweilt. Diese dunklen, regnerischen Nächte mag ich auch nicht. Mein Traum ist es, irgendwann wieder mit Naoko und Ihnen in unserem Zimmer zu sitzen, Trauben zu essen und Gitarre zu spielen.
    Bis dahin – Ihre Reiko Ishida.«

11. Kapitel
    Nach Naokos Tod schrieb mir Reiko noch mehrere Male. Daß es nicht meine Schuld sei, niemandes Schuld, ebensowenig, wie man jemanden für den Regen verantwortlich machen könne. Doch ich schrieb ihr nicht zurück. Was hätte ich ihr sagen können? Was hätte es genützt? Naoko existierte auf dieser Welt nicht mehr; sie war zu einer Handvoll Asche geworden.
    Nach Naokos Beerdigung Ende August in Kōbe kehrte ich nach Tōkyō zurück. Ich erklärte meinem Vermieter und dem Inhaber des italienischen Restaurants, in dem ich arbeitete, daß ich eine Zeitlang fortbleiben würde. An Midori schrieb ich einen kurzen Brief ohne Erklärungen, in dem ich sie bat, noch ein wenig Geduld mit mir zu haben. Dann verbrachte ich drei Tage von morgens bis abends im Kino, bis ich alle neuen Filme in Tōkyō gesehen hatte, packte meinen Rucksack, hob mein ganzes Geld von der Bank ab, fuhr zum Bahnhof Shinjuku und stieg in den erstbesten Expreß.
    Ich weiß nicht mehr, an welche Orte es mich auf meiner Reise verschlug. An Ausblicke, Gerüche und Geräusche erinnere ich mich sehr wohl, aber die Namen der Orte sind mir entglitten, ebenso wie die Reihenfolge, in der ich sie besucht habe. Mit Zügen, Bussen oder per Anhalter zog ich von Stadt zu Stadt. Auf unbebauten Grundstücken, in Bahnhöfen oder Parks, an Flußufern oder am Strand rollte ich meinen Schlafsack aus. Einmal ließ man mich in einem Winkel der örtlichen Polizeiwache übernachten, und wieder ein anderes Mal schlief ich an einem Friedhof. Solange man mich unbehelligt ließ und ich in Ruhe schlafen konnte, war mir egal, wohin ich mein müdes Haupt bettete. Erschöpft vom Wandern kroch ich in meinen Schlafsack, trank von meinem billigen Whiskey und schlief sofort ein. In freundlichen Orten schenkten die Leute mir Essen und Moskito-Spiralen, in weniger freundlichen Orten riefen sie die Polizei und ließen mich aus ihren Parks vertreiben. Aber auch das machte für mich keinen Unterschied. Mir ging es einzig und allein darum, in Orten zu schlafen, die ich nicht kannte.
    Wenn mir das Geld ausging, arbeitete ich drei, vier Tage, bis ich wieder genug hatte. Arbeit fand ich überall. So zog ich ohne ein besonderes Ziel einfach nur von Ort zu Ort. Die Welt ist groß und voller wundersamer Dinge und sonderbarer Menschen. Einmal rief ich Midori an, denn ich mußte unbedingt ihre Stimme hören.
    »Ist dir bewußt, daß das Semester längst angefangen hat?« fragte sie. »Einige Protokolle sind sogar schon fällig. Was hast du überhaupt vor? Seit drei Wochen hast du nichts von dir hören lassen. Wo bist du und was machst du?«
    »Tut mir leid. Ich kann jetzt noch nicht zurück nach Tōkyō kommen.«
    »Mehr hast du mir nicht zu sagen?«
    »Mehr kann ich dir nicht sagen. Vielleicht im Oktober…«
    Ohne ein weiteres Wort legte Midori auf.
    So reiste ich weiter. Ab und zu übernachtete ich in einem billigen Gasthaus, um ein Bad zu nehmen und mich zu rasieren. Der Anblick, der sich mir im Spiegel bot, war erschreckend. Meine Haut war von der Sonne ausgedörrt, die Augen lagen tief in den Höhlen, über meine eingefallenen Wangen zogen sich undefinierbare Linien und Schnitte. Ich sah aus wie einer, der gerade aus einer finsteren Höhle gekrochen war, und mußte genau hinsehen, um mein Gesicht noch zu erkennen.
    Unterdessen wanderte ich die Nordwestküste etwa bei Tottori und die Nordküste von Hyōgo entlang. Sich am Meer entlangzubewegen war bequem, weil sich am Strand immer ein geeigneter Schlafplatz finden ließ. Das Treibholz eignete sich gut zum Feuermachen,

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