Naokos Laecheln
vollkommen ehrlich darlegte. Zu Hause angekommen, setzte ich mich sogleich auf die Veranda und reihte im Kopf die Sätze aneinander, während ich hinaus in den Regen sah. Dann ging ich an meinen Schreibtisch und schrieb.
»Es ist kaum zu ertragen, daß ich Ihnen nun diesen Brief schreiben muß«, begann ich. Zunächst schilderte ich ihr die Geschichte meiner Beziehung zu Midori und ging erst dann zu den Ereignissen des vergangenen Tages über.
»Ich habe Naoko immer geliebt und liebe sie noch. Aber das, was zwischen mir und Midori besteht, ist eine endgültige Sache und ich spüre eine unwiderstehliche Kraft, die mich von nun an immer schneller mit sich reißen wird. Was ich für Naoko empfinde, ist eine ruhige, zärtliche, reine Liebe; mein Gefühl für Midori ist völlig anderer Art – es steht, geht, atmet ganz von allein und hat sogar einen eigenen Herzschlag. Und es wühlt mich auf. Nun weiß ich vor lauter Verwirrung nicht, was ich tun soll. Ohne mich loben zu wollen, finde ich, daß ich aufrichtig war, so gut ich es eben vermag, niemanden belogen und mich immer bemüht habe, niemanden zu verletzen. Warum ich dennoch in dieses Labyrinth der Gefühle geschleudert wurde, begreife ich nicht. Was soll ich nur tun? Sie sind die einzige, die ich um Rat bitten kann.«
Ich schickte den Brief noch am selben Abend per Eilboten ab.
Fünf Tage später traf Reikos Antwort ein.
»17. Juni
Lieber Herr Watanabe,
Zuerst die gute Neuigkeit.
Naokos Zustand hat sich viel rascher gebessert, als wir es je zu hoffen gewagt hätten. Ich habe bereits einmal mit ihr telefoniert, und sie hat sich sehr deutlich artikulieren können. Vielleicht kann sie sogar bald wieder hierher zurückkommen.
Nun zu Ihrer Angelegenheit.
Zunächst einmal glaube ich, daß Sie alles viel zu ernst nehmen.
Einen Menschen zu lieben, ist etwas Wunderbares, und wenn diese Liebe aufrichtig ist, wird auch niemand in ein Labyrinth geschleudert. Haben Sie Vertrauen zu sich selbst!
Mein Rat ist ein sehr einfacher. Wenn Sie sich von Anfang an so stark zu dem Mädchen Midori hingezogen fühlten, ist es ganz natürlich, daß Sie sich in sie verliebt haben. Vielleicht geht es gut, vielleicht auch nicht. Aber so ist es eben in der Liebe. Wenn man sich verliebt hat, ist es meiner Ansicht nach nur natürlich, sich dieser Liebe ganz hinzugeben. Auch das ist eine Form von Aufrichtigkeit.
Zweitens: Die Frage, ob Sie mit Midori schlafen sollen oder nicht, müssen Sie sich schon selbst beantworten. Dazu kann ich nicht das geringste sagen. Besprechen Sie das mit Midori, und kommen Sie zu ihrem eigenen Schluß.
Drittens: Bitte schweigen Sie gegenüber Naoko über diese Sache. Sollte es irgendwann einmal unvermeidlich werden, es ihr zu sagen, werden wir uns gemeinsam eine geeignete Vorgehensweise überlegen. Deshalb behalten Sie bitte noch alles für sich und überlassen Sie mir das übrige.
Viertens: Sie sind für Naoko ein solcher Born der Kraft, daß Sie noch immer sehr viel für sie tun können, auch wenn Sie nicht mehr ihr Liebhaber sein wollen. Also grübeln Sie nicht allzu ernsthaft über alles nach. Wir sind alle höchst unvollkommene Menschen (und damit meine ich alle – normalen und nicht ganz so normalen – Menschen), die in einer höchst unvollkommenen Welt leben. Schließlich ist es uns nicht gegeben, mit der mechanischen Präzision und Überschaubarkeit eines Bankkontos zu funktionieren und alle unsere Linien und Winkel mit Lineal und Zirkel zu vermessen, oder?
Für mich persönlich klingt es so, als sei Midori ein tolles Mädchen. Allein schon beim Lesen Ihres Briefes ist mir klar geworden, warum Sie sich zu ihr hingezogen fühlen. Ebenso verstehe ich, warum Sie sich zu Naoko hingezogen fühlen. Daran ist ja auch nichts Unrechtes. In unserer großen, weiten Welt passieren solche Dinge andauernd. Es ist genauso, wie wenn man an einem sonnigen Tag mit einem Boot auf einen schönen See hinausfährt und sagt, ach, was für ein schöner Tag, und was für ein schöner See. Hören Sie auf, sich zu martern. Man muß den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen. Trotz aller Bemühungen läßt es sich manchmal nicht vermeiden, andere Menschen zu kränken. So ist eben das Leben. Das soll keine Moralpredigt sein, aber es wird Zeit, daß Sie etwas über das Leben lernen. Sie sind zu sehr bemüht, das Leben nach Ihrer Fasson zu formen. Wenn Sie nicht in einer Nervenheilanstalt landen wollen, sollten Sie sich ein bißchen mehr öffnen und sich dem natürlichen Fluß
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