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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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widersetzte sich der fünfzigpfündigen Steinkugel nicht und zersplitterte. Die Angreifer warfen sich in die Bresche. Andere erklommen wie Ameisen über die Pfahlleitern die Mauern. Das Todesurteil über die Stadt war innerhalb von ein paar Minuten gefallen. Nur die Ausführung zog sich etwas hin. Aber nicht sehr lange.
    »Auf sie! Tööötet sieee!«
    Ein wilder Schrei, ein Heulen, ein Krachen, die Haare standen einem zu Berge.
    Wartha starb. Es starb während seine Glocken läuteten. Die Glocken von Wartha, die noch vor kurzem laut Alarm geschlagen, vor einem Augenblick noch trotzig zu den Waffen gerufen hatten, klangen jetzt kläglich, wie ein Hilfeschrei. Bis sich schließlich die Glockentöne in das krampfhafte, unregelmäßige, ängstliche Stöhnen eines Sterbenden verwandelten. Und wie ein Sterbender wurden sie still, erstickten im Sterben und verlöschten.Schließlich verstummten sie gänzlich. Fast im selben Moment hüllten sich beide Glockentürme in Rauch und hoben sich schwarz vor dem Hintergrund der Flammen ab. Die Flammen strebten zum Himmel empor, versinnbildlichten die davonschwebende Seele einer Stadt, die starb.
    Denn die Stadt Wartha starb. Das wütende Feuer war nur noch ihr Scheiterhaufen. Und die Schreie der Gemordeten ein Epitaph.
     
    Nach kurzer Zeit verließ ein Flüchtlingszug die Stadt, Frauen, Kinder und diejenigen, denen die Hussiten erlaubt hatten mitzukommen. Die Flüchtlinge wurden von den Bauern-Denunzianten eifrig gemustert. Hin und wieder wurde jemand erkannt. Ergriffen. Und massakriert.
    Direkt vor Reynevans Augen zeigte eine Bäuerin in einem weiten Mantel den Hussiten einen jungen Mann. Man ergriff ihn, und als man ihm die Kapuze heruntergerissen hatte, verriet die modische Frisur einen Ritter. Die Bäuerin sagte etwas zu Ambros und Hlušička. Hlušička gab einen kurzen Befehl. Dreschflegel hoben sich und sausten herunter. Der Ritter stürzte zu Boden, den Liegenden durchbohrten Mistgabeln und Spieße.
    Die Bäuerin nahm ihre Kapuze ab, ein dicker, blonder Zopf kam zum Vorschein. Dann ging sie davon. Sie hinkte. Auf so unverkennbare Weise, dass Reynevan eine angeborene Hüftgelenkluxation diagnostizieren konnte. Im Davongehen warf sie ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Sie hatte ihn erkannt.
    Aus Wartha wurden Beutestücke herausgeschleppt, aus einer Hölle des Feuers und der Qualmwolken kam der Zug der Böhmen, die mit den unterschiedlichsten Gegenständen beladen waren. Die Beute wurde auf die Wagen verstaut, Kühe und Pferde wurden zusammengetrieben.
    Ganz am Schluss des Zuges kam Samson Honig aus der brennenden Stadt. Er war schwarz von Ruß, hie und da auchein wenig angekohlt, auch Brauen und Wimpern waren versengt. Er trug ein junges Kätzchen auf der Hand, ein schwarzweißes Geschöpfchen mit gesträubtem Fell und riesigen, wilden, erschrockenen Augen. Das Kätzchen hielt sich mit seinen kleinen Krallen krampfhaft an Samsons Ärmel fest und öffnete von Zeit zu Zeit sein Mäulchen, ohne einen Laut von sich zu geben.
    Ambros’ Miene war wie versteinert. Reynevan und Scharley schwiegen. Samson trat näher und blieb stehen.
    »Gestern Abend dachte ich daran, die Welt zu retten«, sagte er mild und sanft. »Heute Morgen daran, die Menschheit zu retten. Aber was hilft’s, man muss seine Vorsätze den Kräften anpassen. Und das retten, was man retten kann.«
     
    Nach der Plünderung von Wartha wandte sich Ambros’ Armee wieder nach Westen, Richtung Braunau, und hinterließ auf dem frisch gefallenen weißen Schnee eine breite schwarze Spur.
    Die Reiterei wurde aufgeteilt. Ein Teil ritt unter Brázda von Klinštejn vornweg, als sogenannter
prevoj,
also als Vorhut. Der Rest, etwa dreißig Mann, wurde Oldřich Haladas Kommando unterstellt und bildete die Nachhut. Unter ihnen befanden sich Reynevan, Scharley und Samson
    Scharley pfiff vor sich hin, Samson schwieg. Reynevan, der neben Halada ritt, lauschte den Lehren, die man ihm erteilte, war bedacht auf gute Manieren und legte die schlechten ab. Zu Letzteren, belehrte ihn Halada ziemlich streng, gehöre die Verwendung des Begriffes »Hussiten«, denn diesen benutzten nur die Feinde, die Papisten und überhaupt alle Leute, die nicht wohlgesinnt seien. Man müsse stattdessen sagen: »Rechtgläubige«, »gute Böhmen« oder »Gottesstreiter«. Das Heer von Hradec Králové, belehrte ihn der Hetman der Gottesstreiter weiter, sei der bewaffnete Arm der Waisen, also der Rechtgläubigen, die nach dem Tode des großen,

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