Narziss Und Goldmund
sich erraten.
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Oft lag er teilnahmslos, manchmal fieberte er und redete verwirrt, manchmal war er klar, und dann wurde jedesmal Narziß gerufen, dem diese letzten Gespräche mit Goldmund sehr wichtig wurden.
Einige Bruchstücke aus Goldmunds Berichten und Bekenntnissen hat Narziß überliefert, andere der Gehilfe.
»Wann die Schmerzen begonnen haben? Es war noch
am Anfang meiner Reise. Ich ritt im Wald, und ich bin samt dem Gaul gestürzt und bin in einen Bach gefallen und bin eine ganze Nacht im kalten Wasser gelegen. Da drinnen, wo ich mir die Rippen gebrochen habe, da sind seither die Schmerzen. Damals war ich noch nicht sehr weit von hier, aber ich mochte nicht umkehren, es war kindisch, aber ich dachte, es würde komisch aussehen. Ich ritt also weiter, und als ich nicht mehr reiten konnte, weil es so weh tat, habe ich das Pferdchen verkauft, und dann bin ich lange Zeit in einem Hospital gelegen.
Ich bleibe jetzt hier, Narziß, es ist nichts mehr mit dem Reiten. Es ist nichts mehr mit dem Wandern. Es ist nichts mehr mit dem Tanzen und mit den Weibern. Ach, sonst wäre ich noch lang ausgeblieben, noch jahrelang. Aber wie ich denn sah, daß es da draußen keine Freude mehr für mich gibt, da dachte ich mir ehe ich hinunter muß, will ich noch ein wenig zeichnen und ein paar Figuren machen, irgendeine Freude will man doch haben.«
Narziß sagte ihm: »Ich bin so froh, daß du wiedergekommen bist. Du hast mir so sehr gefehlt, ich habe jeden Tag an dich gedacht, und oft hatte ich Angst, du würdest nie mehr wiederkommen wollen.«
Goldmund schüttelte den Kopf: »Nun, der Verlust wäre nicht groß gewesen.«
Narziß, das Herz vor Weh und Liebe brennend, bückte sich langsam zu ihm herab, und nun tat er, was er in den vielen Jahren ihrer Freundschaft niemals getan hatte, er 323
berührte Goldmunds Haar und Stirn mit seinen Lippen.
Verwundert zuerst, dann ergriffen, merkte Goldmund, was geschehen sei.
»Goldmund«, flüsterte ihm der Freund ms Ohr, »verzeih, daß ich es dir nicht früher habe sagen können. Ich hätte es dir sagen sollen, als ich dich damals in deinem Gefängnis aufsuchte, in der Bischofsresidenz, oder als ich deine ersten Figuren zu sehen bekam, oder irgendeinmal.
Laß es mich dir heute sagen, wie sehr ich dich liebe, wieviel du mir immer gewesen bist, wie reich du mein Leben gemacht hast. Es wird dir nicht sehr viel bedeuten. Du bist an Liebe gewohnt, sie ist für dich nichts Seltenes, du bist von so vielen Frauen geliebt und verwöhnt worden. Für mich ist es anders. Mein Leben ist arm an Liebe gewesen, es hat mir am Besten gefehlt. Unser Abt Daniel sagte mir einst, daß er mich für hochmütig halte, wahrscheinlich hat er recht gehabt. Ich bin nicht ungerecht gegen die Menschen, ich gebe mir Mühe, gerecht und geduldig mit ihnen zu sein, aber geliebt habe ich sie nie. Von zwei Gelehrten im Kloster ist der Gelehrtere mir lieber, nie habe ich etwa einen schwachen Gelehrten trotz seiner Schwäche liebgehabt. Wenn ich trotzdem weiß, was Liebe ist, so ist es deinetwegen. Dich habe ich lieben können, dich allein unter den Menschen. Du kannst nicht ermessen, was das bedeutet. Es bedeutet den Quell in einer Wüste, den blühenden Baum in einer Wildnis. Dir allein danke ich es, daß mein Herz nicht verdorrt ist, daß eine Stelle in mir blieb, die von der Gnade erreicht werden kann.«
Goldmund lächelte froh und etwas verlegen. Mit der leisen ruhigen Stimme, die er in seinen klaren Stunden hatte, sagte er: »Als du mich damals vom Galgen befreit hattest und wir heimritten, fragte ich dich nach meinem Pferde Bleß, und du gabst mir Auskunft. Damals sah ich, daß du, der du sonst Pferde kaum auseinanderkennst, dich um das 324
Rößchen Bleß bekümmert hattest Ich verstand, daß du es meinetwegen getan hattest, und war sehr froh darüber.
Jetzt sehe ich, daß es wirklich so war und daß du mich wirklich liebhast. Auch ich habe dich immer liebgehabt, Narziß, die Hälfte meines Lebens ist ein Werben um dich gewesen. Ich wußte, daß auch du mich gern hattest, aber nie hatte ich gehofft, daß du es mir einmal sagen würdest, du stolzer Mensch. Jetzt hast du es mir gesagt, in diesem Augenblick, wo ich nichts anderes mehr habe, wo Wanderschaft und Freiheit, Welt und Weiber mich im Stich gelassen haben. Ich nehme es an, ich danke dir dafür.«
Die Lydia-Madonna stand in der Kammer und sah zu.
»Du denkst immer ans Sterben?« fragte Narziß.
»Ja, ich denke daran und an das, was aus meinem
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