Narziss und Goldmund
Gedanken viel mit dem Freunde beschäftigt, er sorgte um ihn und hatte Sehnsucht nach ihm. Würde er ihm denn zurückkommen, der entflohene Vogel, der liebe Leichtfuß? Nun zog dieser wunderliche und geliebte Mensch wieder seine krause, willenlose Bahn, nun strich er wieder lüstern und neugierig durch die Welt, seinen starken dunklen Trieben nach, stürmisch und unersättlich, ein großes Kind. Möge Gott mit ihm sein, möge er heil zurückkommen. Nun flo g er wieder kreuz und quer, der Schmetterling, nun sündigte er wieder, verführte Frauen, ging seinen Gelüsten nach, geriet vielleicht wieder in Totschlag, in Gefahr und Gefangenschaft und kam dann um. Wieviel Sorgen machte einem dieser blonde Knabe, der über sein Altwerden klagte und aus solchen Kinderaugen blickte! Wie mußte man um ihn in Angst sein. Und doch freute sich Narziß von Herzen über ihn. Es gefiel ihm im Grunde sehr, daß dieses trotzige Kind so schwer zu bändigen war, daß er solche Launen hatte, daß er nun wieder ausgebrochen war und sich die Hörner ablief.
Jeden Tag kehrten die Gedanken des Abts zu irgendeiner Stunde zu seinem Freunde zurück, in Liebe und Sehnsucht, in Dankbarkeit, in Sorge, zuweilen auch mit Bedenken und Selbstvorwürfen. Hatte er dem Freunde nicht vielleicht mehr davon verraten sollen, wie sehr er ihn liebte, wie wenig er ihn anders wünschte, wie reich er durch ihn und durch seine Kunst geworden war? Er hatte ihm wenig davon gesagt, viel zu wenig vielleicht – wer weiß, ob er ihn nicht hätte halten können?
Er war durch Goldmund aber nicht nur reicher geworden Er war durch ihn auch ärmer geworden, ärmer und schwächer, und es war gewiß gut, daß er das dem Freunde nicht gezeigt hatte. Die Welt, in der er lebte und Heimat hatte, seine Welt, sein Klosterleben, sein Amt, seine Gelehrsamkeit, sein schön gegliedertes Gedankengebäude waren ihm durch den Freund oft stark erschüttert und zweifelhaft geworden. Kein Zweifel: vom Kloster aus, von der Vernunft und Moral aus gesehen war sein eigenes Leben besser, es war richtiger, steter, geordneter und vorbildlicher, es war ein Leben der Ordnung und des strengen Dienstes, ein dauerndes Opfer, ein immer neues Streben nach Klarheit und Gerechtigkeit, es war sehr viel reiner und besser als das Leben eines Künstlers, Vagabunden und Weiberverführers. Aber von oben gesehen, von Gott aus gesehen – war da wirklich die Or dnung und Zucht eines exemplari schen Lebens, der Verzicht auf Welt und Sinnenglück, das Fernbleiben von Schmutz und Blut, die Zurückgezogenheit in Philosophie und Andacht besser als das Leben Goldmunds? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, ein geregeltes Leben zu führen, dessen Stunden und Ver richtungen die Betglocken anzeigten? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, den Aristoteles und Thomas von Aquin zu studieren, Griec hisch zu können, seine Sinne ab zutöten und der Welt zu entfliehen? War er nicht von Gott geschaffen mit Sinnen und Trieben, mit blutigen Dunkelheiten, mit der Fähigkeit zur Sünde, zur Lust, zur Verzweiflung? Um diese Fragen kreisten des Abts Gedanken, wenn sie bei seinem Freunde weilten.
Ja, und es war vielleicht nicht bloß kindlicher und menschlicher, ein Goldmundleben zu führen, es war am Ende wohl auch mutiger und größer, sich dem grausamen Strom und Wirrwarr zu überlassen, Sünden zu begehen und ihre bitteren Folgen auf sich zu nehmen, statt abseits der Welt mit gewaschenen Händen ein sauberes Leben zu führen, sich einen sc hönen Gedankengarten voll Harmo nie anzulegen und zwischen seinen behüteten Beeten sündelos zu wandeln Es war vielleicht schwerer, tapferer und edler, mit zerrissenen Schuhen durch die Wälder und auf den Landstraßen zu wandern, Sonne und Regen, Hunger und Not zu leiden, mit den Freuden der Sinne zu spielen und sie mit Leiden zu bezahlen.
Jedenfalls hatte Goldmund ihm gezeigt, daß ein zu Hohem bestimmter Mensch sehr weit in die blutige, trunkene Wirrsal des Lebens hinabtauchen und sich mit vielem Staub und Blut beschmutzen könne, ohne doch klein und gemein zu werden, ohne das Göttliche in sich zu töten, daß er durch tiefe Verdunkelungen irren könne, ohne daß im Heiligtum seiner Seele das gö ttliche Licht und die Schöp ferkraft erlosch. Tief hatt e Narziß in seines Freundes ver worrenes Leben geblickt, und weder seine Liebe zu ihm noch seine Achtung für ihn war kleiner geworden. O nein, und seit er aus Goldmunds befleckten Händen diese wunderbar stilllebendigen, von innerer
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