Narziss und Goldmund
nicht, daß ein Omega eine Schlange oder ein Vogel werde. In der Natur kann der Geist nicht leben, nur gegen sie, nur als ihr Gegenspiel. Glaubst du mir jetzt, Goldmund, daß du nie ein Gelehrter sein wirst?«
O ja, Goldmund glaubte es längst, er war damit einverstanden.
»Ich bin gar nicht mehr in das Streben nach eurem Geist verbissen«, sagte er, halb lachend. »Es geht mir mit dem Geist und mit der Gelehrsamkeit ähnlich, wie es mir mit meinem Vater gegangen ist: ich glaubte ihn sehr zu lieben und ihm ähnlich zu sein, ich schwor auf alles, was er sagte.
Aber kaum war meine Mutter wieder da, so wußte ich erst wieder, was Liebe ist, und neben ihrem Bild war das des Vaters plötzlich klein und unfroh und beinah widerwärtig geworden. Und jetzt neige ich dazu, alles Geistige als väterlich, als unmütterlich und mutterfeindlich anzusehen und es ein wenig gering zu achten.«
Er sprach scherzend, doch gelang es ihm nicht, seines Freundes trauriges Gesicht heiter zu machen. Narziß sah ihn schweigend an, sein Blick war wie eine Liebkosung.
Dann sagte er: »Ich verstehe dich wohl. Wir brauchen jetzt nicht mehr zu streiten; du bist erwacht, und du hast ja jetzt auch den Unterschied zwischen dir und mir erkannt, den Unterschied zwischen mütterlichen und väterlichen Herkünften, zwischen Seele und Geist. Und nun wirst du ja wohl bald auch das noch erkennen, daß dein Leben im Kloster und dein Streben nach einem mönchischen Leben ein Irrtum war, eine Erfind ung deines Vaters, der damit das Andenken deiner Mutter entsündigen oder auch nur sich an ihr rächen wollte. Oder glaubst du noch immer, daß es deine Bestimmung sei, dein ganzes Leben im Kloster zu bleiben?«
Nachdenklich betrachtete Goldmund seines Freundes Hände, diese vornehmen, ebenso strengen wie zarten, ma geren und weißen Hände. Niemand konnte bezweifeln, daß dies Asketen— und Gelehrtenhände seien.
»Ich weiß nicht«, sagte er mit der singenden, etwas zö gernden, lang auf jedem Laut verweilenden Stimme, die er seit einiger Zeit bekommen hatte. »Ich weiß es wirklich nicht. Du urteilst etwas hart über meinen Vater. Er hat es nicht leicht gehabt. Aber vielleicht hast du auch hierin recht. Ich bin seit mehr als drei Jahren hier in der Klosterschule, und er hat mich noch nie besucht. Er hofft, daß ich für immer hierbleiben werde. Vielleicht wäre es das beste, ich habe es ja auch selber immer gewünscht. Aber heut weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich will und wünsche.
Früher war alles einfach, so einfach wie die Buchstaben im Lesebuch. Jetzt ist nichts mehr einfach, nicht einmal mehr die Buchstaben. Alles hat viele Bedeutungen und Gesichter bekommen. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, ich kann jetzt nicht an solche Sachen denken.«
»Das sollst du auch nicht«, meinte Narziß. »Es wird sich schon zeigen, wohin dein Weg führt. Er hat begonnen, dich zu deiner Mutter zurückzuführen und wird dich ihr noch näherbringen. Was aber deinen Vater betrifft, so urteile ich über ihn nicht zu hart. Würdest du denn zu ihm zurückkehren wollen?«
»Nein, Narziß, gewiß nicht. Sonst würde ich es tun, sobald ich mit der Schule fertig bin, oder schon jetzt. Denn da ich doch kein Gelehrter werde, habe ich eigentlich Latein, Griechisch und Mathematik genug gelernt. Nein, ich will nicht zum Vater zurück …«
Nachdenklich sah er vor sich hin, und plötzlich rief er:
»Aber wie machst du das nur, daß du mir immer wieder Worte sagst oder Fragen stellst, die in mich hineinleuchten und mich mir selbst klarmachen? Auch jetzt wieder war es nur deine Frage, ob ic h denn zu meinem Vater würde zu rückkehren wollen, die mir plötzlich gezeigt hat, daß ich es nicht will. Wie machst du das? Du scheinst alles zu wissen.
Du hast mir manche Worte über dich und mich gesagt, die ich im Augenblick des Hörens gar nicht recht begriff und die mir nachher so wichtig geworden sind! Du warst es, der meine Herkunft eine mütterliche nannte, und du hast entdeckt, daß ich unter einem Bann stand und meine Kindheit vergessen hatte! Woher kennst du die Menschen so gut? Kann ich das nicht auch lernen?«
Narziß schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein, mein Lieber, du kannst es nicht. Es gibt Menschen, die viel lernen können, aber du gehörst nicht zu ihnen. Du wirst nie ein Lerner sein. Wozu denn auch? Du hast das nicht nötig. Du hast andere Gaben. Du hast mehr Gaben als ich, du bist reich er als ich und bist auch schwä cher, du wirst einen schöneren
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