Narziss und Goldmund
Gegenden, in denen niemand mehr da war, das Obst zu ernten, es fiel von den Bäumen und faulte im Gras, an anderen Orten wurde es von verwilderten Horden, die aus den Städten kamen, in rohen Raubzügen geplündert und vergeudet.
Langsam näherte sich Goldmund seinem Ziel, und in dieser letzten Zeit befiel ihn mehrmals die Furcht, er möchte vorher noch die Pest erwischen und in irgendeinem Stalle sterben müssen. Er wollte jetzt nicht mehr sterben, nicht, ehe er das Glück genossen hatte, noch einmal in einer Werkstatt zu stehen und sich dem Schaffen hinzugeben. Zum erstenmal in seinem Leben war ihm jetzt die Welt zu weit und das deutsche Reich zu groß. Kein hübsches Städtchen konnte ihn zur Rast verlocken, keine hübsche Bauernmagd hielt ihn länger fest als eine Nacht.
Einmal kam er an einer Kirche vorüber, an deren Portal standen in tiefen, von Schmucksäulchen getragenen Nischen viele Steinfiguren aus sehr alter Zeit, Figuren von Engeln, Aposteln und Märtyrern, wie er ähnliche schon oft gesehen hatte, auch in seinem Kloster, in Mariabronn, hatte es manche Figuren dieser Art gegeben. Früher, als Jüngling, hatte er sie gerne, aber ohne Leidenschaft betrachtet, sie schienen ihm schön und würdevoll, aber ein wenig zu feierlich und etwas steif und altväterisch. Später dann, nachdem er am Ende seiner ersten großen Wanderschaft von jener süßen traurigen Mutter Gottes des Meisters Niklaus so sehr ergriffen und entzückt worden war, hatte er diese altfränkisch feierlichen Steinfiguren allzu schwer und starr und fremd gefunden, er hatte sie mit einem gewissen Hochmut betrachtet und hatte in der neuen Art seines Meisters eine viel lebendigere, innigere, beseeltere Kunst gesehen. Heute nun, da er voll von Bildern, die Seele gezeichnet von den Narben und Spuren heftiger Abenteuer und Erlebnisse, voll schm erzlicher Sehnsucht nach Be sinnung und nach neuem Schaffen aus der Welt zurückkam, rührten diese uralten strengen Figuren sein Herz: plötzlich mit übermächtiger Gewalt. Andächtig stand er vor den ehrwürdigen Bildern, in welchen das Herz einer lang vergangenen Zeit fortlebte und die Ängste und Entzückungen längst verschwundener Geschlechter nach Jahrhunderten noch zu Stein erstarrt der Vergänglichkeit Trotz boten. In seinem verwilderten Herzen erhob sich schauernd und demütig das Gefühl der Ehrfurcht und ein Grauen vor seinem vergeudeten und verbrannten Leben.
Er tat, was er unendlich lange nicht mehr getan hatte, er suchte einen Beichtstuhl auf, um zu bekennen und sich strafen zu lassen.
Aber wohl gab es Beichtstühle in der Kirche, doch in keinem einen Priester, sie waren gestorben, lagen im Hospital, waren geflohen, fürchteten Ansteckung. Die Kirche war leer, hohl klangen Goldmunds Schritte im Steingewölbe wider. Er kniete vor einem der leere n Beichtstüh le nieder, schloß die Augen und flüsterte ins Sprechgitter hinein: »Lieber Gott, sieh, was aus mir geworden ist. Ich komme aus der Welt zurück und bin ein schlechter unnützer Mensch geworden, ich habe meine jungen Jahre vertan wie ein Verschwender, wenig ist übriggeblieben. Ich habe getötet, ich habe gestohlen, ich habe gehurt, ich bin müßig gegangen und habe andern das Brot weggegessen. Lieber Gott, warum hast du uns so geschaffen, warum führst du uns solche Wege? Sind wir nicht deine Kinder? Ist nicht dein Sohn für uns gestorben?
Gibt es nicht Heilige und Engel, uns zu leiten? Oder sind das alles hübsche erfundene Geschichten, die man den Kindern erzählt und über die die Pfaffen selber lachen? Ich bin irr an dir geworden, Gottvater, du hast die Welt übel geschaffen, schlecht hältst du sie in Ordnung. Ich habe Häuser und Gassen voll von T oten liegen sehen, ich habe gesehen, wie die Reichen sich in ihren Häusern verschanzt haben oder geflohen sind und wie die Armen ihre Brüder unbegraben haben liegenlassen, wie sie einer den andern verdächtigt und die Juden wie Vieh totgeschlagen haben.
Ich habe so viele Unschuldige leiden und untergehen sehen und so viele Böse im Wohlleben schwimmen. Hast du uns denn ganz vergessen und verlassen, ist dir deine Schöpfung ganz entleidet, willst du uns alle zugrunde gehen lassen?«
Seufzend trat er durchs hohe Portal heraus und sah die schweigenden Steinbilder, Engel und Heilige, hager und hoch in ihren starr gefalteten Gewandern stehen, unbewegt, unerreichbar, übermenschlich und doch von Men schenhand und aus Menschengeist geschaffen. Streng und taub standen sie da oben auf
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