Naschkatze
1
Es genügt nicht, wenn ein sprachliches Werk Klarheit und In halt aufweist... Es muss auch ein Ziel und eine Botschaft haben. Sonst sinken wir von der Sprache zum Geschwätz herab, vom Ge schwätz zum Gestammel und vom Gestammel zur Verwirrung.
René Daumal (1908-1944) französische Dichterin und Kritikerin
A ls ich die Augen öffne, sehe ich im Licht der Morgensonne den Renoir über meinem Bett hängen. Ein paar Sekunden lang weiß ich nicht, wo ich bin.
Dann fällt es mir wieder ein.
Und mein Herz fängt zu rasen an, und mir wird ganz schwindlig vor Aufregung. Ja, schwindlig. So wie am ersten Schultag, oder so als würde ich ein brandneues Designer-Outfit von TJ Maxx kriegen.
Nicht nur wegen des Renoirs über meinem Kopf. Der ist übrigens echt. Kein Druck so wie in meinem Zimmer im Studentenwohnheim. Ein richtiges Original vom impressionistischen Meister höchstselbst.
Anfangs konnte ich’s gar nicht glauben. Ich meine, wie oft geht man schon in ein Schlafzimmer und sieht einen echten Renoir über dem Bett hängen? Eh – eigentlich nie, wenn man so ist wie ich.
Als Luke das Zimmer verlassen hat, bin ich zurückgeblieben. Ich tat so, als müsste ich das Bad benutzen. In Wirklichkeit zog ich meine Espandrillos aus und stieg aufs Bett, um den Renoir genauer zu betrachten.
Und ich hatte tatsächlich recht. Ich sah die Farbkleckse, die Renoir benutzt hatte, um die Spitzenmanschetten am Ärmel des kleinen Mädchens so detailliert darzustellen. Und das gestreifte Fell der kleinen Katze im Arm des Mädchens. Ein Relief aus Klecksen. Ein ECHTER Renoir.
Und der hängt über dem Bett, in dem ich aufgewacht bin... Im selben Bett, das jetzt von Sonnenstrahlen übergossen wird. Durch ein großes Fenster zu meiner Linken fällt helles Licht herein, reflektiert vom Gebäude auf der anderen Straßenseite... Und dieses Gebäude ist das METROPOLITAN MUSEUM OF ART. Vor dem Central Park. An der Fifth Avenue. In NEW YORK CITY.
Ja! Ich bin in NEW YORK CITY aufgewacht!!!! Im Big Apple! In der Stadt, die niemals schläft (obwohl ich versuche, jede Nacht mindestens acht Stunden zu schlafen, sonst sind meine Lider geschwollen, und Shari behauptet, ich wäre schlecht gelaunt).
Aber das ist es nicht, was mich schwindelig macht. Der Sonnenschein, der Renoir, das Met, die Fifth Avenue, New York. Nichts davon lässt sich mit dem vergleichen, was mich wirklich aufregt – etwas viel Besseres als das alles zusammen, als mein erster Schultag und ein TJ Maxx-Outfit zusammen.
Und es liegt direkt neben mir im Bett.
Allein schon sein Anblick. Wie süß er aussieht, wenn er schläft! Auf maskuline Weise süß, nicht kätzchensüß. Luke liegt nicht mit offenem Mund da, aus dem Speichel seitlich herausrinnt, so wie bei mir (das weiß ich, weil’s meine Schwestern gesagt haben und weil ich jeden Morgen einen feuchten Fleck auf meinem Kissen finde). Luke hält seine Lippen geschlossen. Sehr hübsch.
Und seine langen, geschwungenen Wimpern... Warum habe ich keine solchen Wimpern? Das ist unfair. Immerhin bin ich ein Mädchen. Ich sollte so lange, schön geschwungene Wimpern haben, keine kurzen, geraden Borsten. Die ich mit einer Wimpernzange behandeln muss, welche ich mittels eines Föhns erhitze, und mit mehreren Schichten Mascara, damit sie überhaupt wie Wimpern aussehen.
Okay, ich höre auf damit, ich will mich nicht über die Wimpern meines Freundes ärgern. Stattdessen werde ich aufstehen. Ich kann nicht den ganzen Tag im Bett herumlungern. O Gott, ich bin in NEW YORK CITY!
Und – okay, ich habe keinen Job. Und keine Wohnung.
Denn der Renoir gehört Lukes Mutter. Ebenso wie das Bett. Und das Apartment auch.
Aber das hat sie nur gekauft, weil sie dachte, sie würde sich von Lukes Dad trennen. Dazu kam es nicht, und das verdankt sie mir. Deshalb hat sie gesagt, Luke könnte hier wohnen, so lange er will.
Glücklicher Luke... Ich wünschte, meine Mom hätte eine Scheidung von meinem Dad geplant und ein luxuri öses Apartment in New York City gekauft, gegenüber vom Metropolitan Museum of Art, und jetzt würde sie es nur ein paar Mal pro Jahr benutzen, um einen Einkaufsbummel zu machen oder eine Ballettaufführung zu besuchen.
Okay, im Ernst. Jetzt muss ich aufstehen. Wie kann ich im Bett bleiben (übrigens ist es ein sehr komfortables Kingsize-Bett mit einer großen, flauschigen weißen Daunendecke), wenn NEW YORK CITY direkt vor der Tür darauf wartet, von mir erforscht zu werden? Nun ja, nicht direkt vor der
Weitere Kostenlose Bücher