Naschmarkt
über meine Lippen kommt, ist lediglich ein leises Grollen. Ich mische Wetterleuchten und Platzregen dazu, bis mir innerlich das Wasser bis zum Hals steht.
Was für ein jämmerlicher Rettungsversuch. Ich wünsche mir von Herzen, mein eigener Blitz würde mich treffen, und zwar genau jetzt.
»Das wär’s für den Moment. Bis Redaktionsschluss haben Sie Zeit, sich die Sache zu überlegen. Morgen und übermorgen bringen wir die Anzeige der Flirtplattform, und am Donnerstag erscheint die Kolumne. Dreihundert Wörter, knackig und sexy. Wie für Sie gemacht.« Sie wirft einen abschätzigen Blick auf meine geliebten ausgetretenen froschgrünen Chucks. Leni hat Mühe, nicht loszuprusten und hustet in ihre Armbeuge. Die Loos bringt sie mit einer Geste zum Schweigen und schnalzt mit der Zunge. »Seite eins vom Kulturteil. Ich will Witz, ich will heiße Insiderflirttipps, und ich will Romantik. Machen Sie sich mit den Funktionen der Internetseite vertraut. Herr Kanzler«, Lorenz zieht den Kopf ein, als hätte er Angst, dass eine von uns ihn abbeißt, »wird Ihnen dabei helfen.«
Sorina Loos erhebt sich, klemmt sich ihre Unterlagen unter den Arm und stöckelt mit Leni im Schlepptau lautstark aus dem Konferenzraum. Ich knalle mein Notizbuch auf den Tisch und verschränke die Arme vor der Brust.
»Äh, Dotti …«
»Was?«
Lorenz stockt. Wenn er nervös ist, tut er sich schwer damit, die richtigen Worte zu finden.
Sofort tut mir mein bissiger Tonfall leid. Lorenz ist erst seit einem halben Jahr beim
Boten.
Er hat als Volontär begonnen, sich bald aufgrund seiner Computerkenntnisse unentbehrlich gemacht und darf mittlerweile die Fernsehkritik übernehmen, da es keinen gibt, der so bewandert ist in aktuellen TV -Serien, Realitysoaps oder Kinoblockbustern. Er spricht fließend Klingonisch, besitzt ein vollständiges Quidditch-Outfit in Ravenclaw-Farben, hat ein Foto von Julia Stiles auf seinem Schreibtisch stehen und verfügt über ein Hirn wie Wikipedia. Lorenz ist ein einwandfreier Nerd, und er steht dazu.
»Das war ganz schön unintelligent von dir.«
»Wie bitte?«
Hat Lorenz
Ich-halt-mich-da-raus-
Kanzler soeben meine Handlungsweise in Frage gestellt? Sich gar unter Verwendung eines negativ-bewertenden Adjektivs auf die Seite der böswilligen, hochhackigen Antagonistin geschlagen?
»Ich meine nur, so eine Kolumne ist doch eine geniale Chance.«
Lorenz benutzt gern und oft das Wort
genial.
Es kommt in seinem Wortschatz gleich nach
Live long and prosper.
»Ach ja?«
»Klar. Online-Dating ist total
in.
«
Er schiebt seine Brille mit eingeknicktem Zeigefinger auf die Nasenwurzel zurück.
»Du glaubst nicht, wie viele Singles bei Flirtplattformen angemeldet sind. Das ist ein irre heißes
Topic,
mordsmäßig angesagt, aber aktuell kaum öffentlich diskutiert. Du kannst eine geniale Sozialstudie draus machen. Liebe 2.0 , die Webmanzipation der Gefühle.«
Single,
schon wieder. Dieses anglizistische Unwort für Menschen in einer Lebensphase, die gesellschaftlich immer noch als krankhaft gilt und höchstens als vorübergehend akzeptiert wird. Als handelte es sich um eine zölibatäre Periode, der unweigerlich eine Beziehung vorausgehen und eine Beziehung folgen müsse. Nur Tupperware und Kochtöpfe brauchen Deckel, das menschliche Herz lässt sich auch ohne erhitzen oder kalt stellen. Ja, richtig, ich bin Single, empfinde diese Lebensweise jedoch weder als vorübergehend noch als krankhaft.
Ich schnappe mir mein Notizbuch und stürme in mein Büro. Dort angekommen, lasse ich mich in meinen Wohlfühlsessel fallen, schließe die Augen und versuche, mich an einen passenden Aphorismus zum Thema Gelassenheit zu erinnern.
Mir fällt keiner ein.
Stattdessen startet sofort eine leicht variierte Kopfkinoversion der heutigen Redaktionssitzung, in der Sorina Loos unter dem Applaus der gesamten Kulturmannschaft in Tränen ausbricht, während Dotti Wilcek eine leidenschaftliche Rede auf die freie Themenwahl hält. Sämtliche Redakteure schwenken Fahnen mit meinem Konterfei und rezitieren Schillers
Räuber.
Der Nachteil von Kopfkino ist die grausame Flüchtigkeit seines trügerischen Trostes. Die Realität ist ein zu egoistischer Regisseur.
Das Problem ist – falls sich irgendjemand jetzt fragen sollte, worin es besteht –, dass ich bis vor einer halben Stunde ein glücklicher Mensch war: Ich liebe meinen Job. Ich arbeite viel und gern, lese an die fünfundzwanzig Bücher im Monat, fahre zu Buchmessen, besuche
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