Nashira
Mädchen unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung. Schon oft hatte sie ihm klarzumachen versucht, dass sie bei der Garde nicht gern »junge Gräfin« genannt wurde, und dass ihr eigentlich schon dieses höfliche »Ihr«, mit dem der Fechtmeister außer ihr sonst keinen seiner Schüler ansprach, bereits zu viel war. Aber es war verlorene Liebesmüh. Die Furcht und Ehrfurcht vor ihrem Vater waren zu groß.
»Die anderen Lehrer sind lange nicht so gut wie Ihr, und was sie unterrichten, interessiert mich sehr viel weniger.«
»Das ist ein Fehler«, erwiderte der Mann und streifte die Handschuhe ab. »Auch andere Fächer, wie Musik und Geschichte, muss ein guter Gardist beherrschen.«
Schnaubend rammte Talitha ihre Schwertspitze in den Boden. »Wie soll man mit Büchern und Flöten einen Zweikampf gewinnen? Aber wenn Ihr meint, Meister ...«
Während sie ebenfalls die Handschuhe ablegte, blieb ihr Blick an einer Gestalt am Rande der Kampfbahn hängen. Es war ein auffallend schlanker, junger Femtit in der typischen Dienerkleidung: einem Kittel mit dem blau-schwarzen Wappen der gräflichen Familie, der in der Taille von einem Ledergürtel gerafft wurde, und schwarzen Beinkleidern. Seine Arme waren entblößt, nur um die Handgelenke trug er schwere lederne Manschetten. Seine Hände waren groß, und da er nicht so recht zu wissen schien, wohin er sie stecken sollte, ließ er sie schlaff am Körper herunterhängen. Ein wenig Flaum stand ihm auf den Wangen, und sein langes Haar,
hellgrün und glatt, war zu einem so losen Pferdeschwanz zusammengebunden, dass es sein Gesicht teils umrahmte und teils verbarg. Dieses Gesicht war schmal und seine Farbe so hell, wie es für die Angehörigen seiner Rasse typisch war. Seine länglichen Augen hingegen waren für einen Femtiten ungewöhnlich groß, vor allem aber strahlten sie in einer betörenden fast goldgelben Farbe, wie man sie in Talaria nur höchst selten sah.
»Saiph!«, rief das Mädchen und lief zu ihm.
»Habt Ihr Eure Übungsstunde beendet, Herrin?«, fragte er.
»Warum so förmlich?« Talitha warf einen Blick zurück zu dem Mann, der immer noch in der Mitte der Kampfbahn stand. »Ich glaube nicht, dass er dich von hier aus hören kann.«
»Trotzdem, wir sollten lieber auf der Hut sein«, flüsterte Saiph. Er griff in seinen Beutel und holte einen weiten schwarzen Umhang hervor. »Legt Euch den über, sonst erkältet Ihr Euch noch. Ihr seid ganz verschwitzt.«
Das Mädchen stieß betont laut die Luft aus. »Was soll ich denn mit einem Umhang? Ich komme um vor Hitze!«
Der junge Mann machte Anstalten, ihn ihr über die Schultern zu legen, doch Talitha entwand sich ihm und schnitt eine Grimasse. »Versuch’s nur, wenn du kannst.« Ihre Augen funkelten herausfordernd.
Wieder schaute sich Saiph ängstlich um. »Ihr wisst doch, dass wir hier nicht so vertraulich miteinander umgehen dürfen«, sagte er mit einem bedauerndem Unterton.
Talitha riss ihm den Umhang aus der Hand und legte ihn um. »Na, nun zufrieden?«, lachte sie. »Aber du kannst einem ganz schön auf die Nerven gehen, wenn du den perfekten Diener spielst«, fügte sie noch hinzu und wandte sich zum Gehen.
Draußen vor dem Palast der Garde senkte sich der Abend über der Stadt Messe nieder. Rotes Licht durchbrach die Kuppel des Talareths einige hundert Ellen über ihren Köpfen. In solchen Augenblicken wirkte der gewaltige Baum wie ein vernunftbegabtes, wohlwollendes Wesen, das mit seiner enormen Krone die gesamte Stadt beschützte. Durch das große Eingangstor der Arena konnte man in der Ferne, jenseits der hellen Umrisse der Zitadelle, seinen durch den Dunst flirrenden Stamm erkennen.
Der Baum maß sechshundert Ellen im Umfang und reckte sich tausend Ellen in den Himmel hoch. Er schien aus gigantischen hölzernen Säulen zu bestehen, die sich gegenseitig umarmten und sich dann auf halber Höhe zu einer gewaltigen Kuppel öffneten. Eine leichte Brise bewegte die Blätter, so dass Miraval und Cetus, die beiden von seinem Laub verborgenen Sonnen, fantastische Schatten und ein Mosaik aus hellen und dunklen Flecken auf die Dächer der Stadt zeichneten.
Jede Stadt in Talaria lebte im Schatten eines Talareths. Diese Bäume produzierten nicht nur Atemluft, sondern speicherten sie auch mithilfe des Großen Luftkristalls, der in Klöstern, die hoch oben zwischen den Ästen errichtet waren, gehütet wurde.
Die Bewohner von Messe bewegten sich ohne Eile durch ihre Stadt und widmeten sich ihren
Weitere Kostenlose Bücher