Nasses Grab
Dieser Fluss immerhin blieb, wo er hingehörte, dachte Magda nach einem Blick auf die vor ihr liegende Zeitung. Daraufhin betrachtete sie ihre Freundin, die gedankenverloren Schokoladeneis aus einem riesigen Becher löffelte. Den größten Teil hatte sie schon aufgegessen, nachdem sie zuvor ein opulentes Drei-Gänge-Menü verspeist hatte, während Magda sich mit einem Salat begnügt hatte. Ist eigentlich gar nicht ihre Art, dachte Magda. Außer …
Xenia Bondy legte den Löffel zur Seite, nahm ihre übergroße Sonnenbrille ab und sah Magda an. »Magda«, sagte sie langsam, »ich lass mich scheiden.«
»Von Jay?«, fragte Magda erstaunt.
»Na, er ist doch der einzige Mann, den ich habe.« Xenia seufzte.
»Okay, Mrs. Regina Lambert.« Magda lachte. »Ist das eine Trockenübung für ein Remake von Charade , oder meinst du das ernst?«
Nun lachte auch Xenia.
»Du hast recht, ich habe den Film zu oft gesehen. Wahrscheinlich sollte ich seltener bügeln. Aber im Ernst. Ich lasse mich scheiden. Es hat keinen Zweck. Ich bin es leid.«
Magda schwieg. Am Nebentisch turtelte ein deutsches Touristenpärchen. Sie hielten sich eng umschlungen, die junge Frau hatte ein Bein über den Schenkel ihres Freundes gelegt und kraulte mit einer Hand das raspelkurze Haar auf seinem Hinterkopf. Ihr ohnehin sehr kurzer Rock war gefährlich nach oben gerutscht. Seit einer halben Stunde klebten ihre Lippen aneinander, als übten sie Mund-zu-Mund-Beatmung. Die Espressi, die vor ihnen standen, mussten inzwischen ungenießbar sein. Xenia setzte nach einem missbilligenden Blick auf die beiden Turteltauben ihre Sonnenbrille wieder auf und widmete sich von Neuem ihrem Eis.
»Mit wem hast du ihn denn diesmal erwischt?«, wollte Magda wissen. Der Blick ihrer Freundin hatte Bände gesprochen. Xenias Ehemann war ein notorischer Casanova. Magda hatte nie verstanden, warum er nicht mit dem zufrieden sein konnte, was er zu Hause hatte: eine bildhübsche Frau, intelligent, erfolgreich in ihrem Beruf, humorvoll, geduldig wie ein Engel, verständnisvoll, was seine extravaganten Macken anging, und eine wunderbare Mutter. Es war eine Schande, zumal man ihn noch nicht einmal als Scheusal bezeichnen konnte. Ganz im Gegenteil. Jay war im Grunde ein herzensguter Mann, charmant, klug, attraktiv, ihren Kindern ein guter Stiefvater und, wenn man Xenia glauben durfte, ein leidenschaftlicher Liebhaber. Nun, genug Übung hatte er ja – er ließ weiß Gott keine Gelegenheit aus. Magda hatte keinen Zweifel, dass er Xenia wirklich liebte. Aber gleichzeitig war er offenbar nicht in der Lage, all den anderen hübschen Frauen zu widerstehen, die seinen Weg kreuzten. Letztlich war es wohl wirklich nur eine Frage der Zeit gewesen, wann Xenias unendliche Geduld an ihre Grenzen stoßen würde. Vielleicht war es nur die Midlife-Crisis, immerhin war er mehr als zwanzig Jahre älter als Xenia, obwohl man ihm das nicht ansah.
»Mit einer Praktikantin. Er hat sie nach einem sogenannten Arbeitsessen nach Hause mitgenommen, der Idiot. Als gäbe es in Prag keine Hotels! Er dachte, ich sei auf dem Weg nach Berlin, aber der verdammte Flieger war kaputt, und ich kam wieder nach Hause. Ich kam mir vor wie in Skin Deep . Scheiße.« Xenia seufzte wieder, schob die leere Schale von sich weg und ließ den Löffel klirrend hineinfallen.
»Hatte sie auch eine Pistole?«, fragte Magda mit einem Schmunzeln.
»Gott sei Dank nicht«, erwiderte Xenia grinsend. »Da hörten die Parallelen dann glücklicherweise doch auf. Aber ich habe ihn mitsamt seinem verdammten Laptop und ein paar Koffern vor die Tür gesetzt. Sogar packen musste ich sie ihm noch!« Sie schnaubte verächtlich. »Dabei kann sich der Mistkerl nicht mal auf eine Schreibblockade rausreden. Oder hast du schon mal von einem Journalisten gehört, der unter einer Schreibblockade leidet? Der Mann ist stellvertretender Chefredakteur, verdammt noch mal, kein Schriftsteller. Er muss das Blatt machen, nicht die Artikel schreiben. Mistkerl, verdammter! Gott sei Dank sind die Kinder über die Ferien bei meinen Eltern.«
»Vielleicht solltest du dir einfach einen Liebhaber suchen«, schlug Magda vor.
Xenia sah sie über den Rand ihrer Sonnenbrille mit hochgezogenen Brauen an. »Um bei Regina zu bleiben: Ich bin zwar nach Prag gekommen, um nicht in der kanadischen Provinz zu versauern, aber nicht, um dem in dieser altehrwürdigen Stadt üblichen moralischen Sittenverfall zu frönen. Im Ernst. Ich will keinen Liebhaber – wozu auch? Ich
Weitere Kostenlose Bücher