Nasses Grab
Selbstverständlich.« Sie legte auf.
»Noch eine Absage. Langsam können wir für den Sommer zumachen, Chef«, wandte sie sich an den blassen Geschäftsführer. »Die Leute haben einfach keinen Sinn fürs Abenteuer.«
Larissa konnte die Absagen verstehen. Wer wollte seinen Urlaub schon freiwillig in einem Katastrophengebiet verbringen? Das Wetter war zwar traumhaft, aber das Wasser hatte die Bewegungsfreiheit in der Stadt stark eingeschränkt. Die Brücken über die Moldau waren bis auf eine gesperrt, und diese einzige durfte nur von den Straßenbahnen befahren werden. Zu Fuß gab es keine Möglichkeit, von einer Flussseite auf die andere zu gelangen. Die Straßenbahnen fuhren zwar, aber niemand wusste, welche Tram einen wohin bringen würde. Es war jedes Mal eine Fahrt ins Ungewisse.
Am Morgen war Larissa an der Seifertova-Straße in Žižkov, einem hübschen, wenngleich noch immer ziemlich heruntergekommenen Arbeiterviertel zwischen dem Weinberge-Viertel und Karlín, in die Tram Nummer 9 gestiegen, in der Hoffnung, diese würde sie wie immer auf die andere Seite der Moldau bringen. Sie wollte, soweit möglich, von Smíchov aus am Fluss entlang Richtung Norden laufen und sich mit eigenen Augen die Schäden auf der Kampa und den angrenzenden Teilen der Kleinseite ansehen. Stattdessen war sie nur bis zum Wenzelsplatz gekommen. Der Fahrer stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Die Fahrgäste standen unschlüssig herum, manche stiegen aus, andere ein, fragten die ausharrenden Passagiere, ob es bald weitergehen würde und wohin die Tram eigentlich fahre, wenn sie denn fahre.
Larissa stieg aus. Hinter der Straßenbahn stand eine zweite, ein Stück die Straße hinauf sah sie zwei weitere dieser rotweißen Ungetüme stehen. Sie ging nach vorn zum Fahrer.
»Entschuldigen Sie bitte, wann fahren wir weiter?«, fragte sie.
»Keine Ahnung, junge Frau. Ich habe keinen Strom. Vielleicht in ein paar Minuten, vielleicht in zwei Stunden. Vielleicht gar nicht.« Er lachte. »Das ist heute schon das zweite Mal, dass der Strom wegbleibt. Nur Geduld. Genießen Sie das schöne Wetter.« Er streckte sein faltiges Gesicht der Sonne entgegen und blies den Rauch in den wolkenlosen Himmel.
» What about my ticket? «, fragte eine aufgeregte ältere Frau, die sich neben Larissa gedrängt hatte, in breitem Amerikanisch. »Ich habe eine Kurzstrecke, die gilt nur fünfzehn Minuten! Im Hotel …«
Der Fahrer blickte sie verständnislos an. Englisch könne er nicht, sagte er und zuckte die Achseln, uninteressiert an den Nöten der Touristen. Er wandte sich an eine junge Frau, die an der hinteren Tür versuchte, einen Kinderwagen in die Tram zu heben.
»Lassen Sie das lieber, junge Frau«, rief er ihr zu, »zu Fuß sind Sie bestimmt schneller. Machen Sie mit dem Kleinen lieber einen Spaziergang.« Die junge Frau stellte den Kinderwagen wieder ab und blickte unschlüssig am Fahrer vorbei die Vodičkova-Straße hinunter.
»Aber ich muss auf die Kleinseite, zur deutschen Botschaft …«, klagte sie.
»Gehen Sie einen Kaffee trinken«, sagte der Fahrer, »das wird hier noch dauern. Und wenn es weitergeht, fahre ich rauf in die Weinberge.«
Nach dem kurzen Gespräch zwischen dem Fahrer und der Frau mit dem Kinderwagen zu urteilen, würde diese Tram gar nicht über den Fluss auf die Kleinseite fahren. Larissa seufzte, sie würde also auch ein Stück zu Fuß gehen. Vielleicht fand sich am Nationaltheater eine Tram, die sie hinüberbringen würde.
» Mouyeh yizdenkaa? «, mischte sich die Touristin mit dem breiten amerikanischen Akzent mehr schlecht als recht auf Tschechisch ein und wedelte mit ihrem Kurzstrecken-Fahrschein.
Im Weggehen übersetzte Larissa dem Fahrer ihre Interpretation der etwas unpräzisen Frage der Touristin – ob die Dame mit dem Kurzstrecken-Fahrschein später wohl weiterfahren könne.
Der winkte ab. »Sie soll sich keine Sorgen machen. Solange dieses Chaos dauert, sind alle Fahrten umsonst.«
Er warf seine Zigarette weg und stieg in die Tram, um jemandem am Funk zu antworten. Die Touristin blieb allein auf dem Bürgersteig zurück und blickte verzweifelt zwischen Larissa und dem Fahrer hin und her.
» No problem, Lady, come hell or high water, the tramrides are for free «, rief Larissa ihr fröhlich zu und schlenderte den Wenzelsplatz hinunter Richtung Můstek.
Magdalena Axamit und Xenia Bondy saßen in einem Straßencafé am Montmartre in Paris. Sie waren seit drei Tagen in der Stadt an der Seine.
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