Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
aus, und das wußte Tigran. Wozu hat man einen Spiegel, vor dem man zerschmetternde Posen üben kann?
»Willkommen!« brüllte Tigran mit seinem Donnerbaß. »Gott segne euren Eingang und gebe euch Frieden! Amen! Mein Name ist Krotow, Tigran Rassulowitsch Krotow.«
Er blickte Tassburg mit einem durchdringenden Blick an – auch den muß man üben, denn er zermürbt jeden, der zur Beichte kommt – und wartete, bis sich Michail Sofronowitsch auch vorgestellt hatte. Dabei erfuhr auch Anastasia, daß der Trupp aus Geologen und Ingenieuren bestand, die durch die Taiga zogen, um Erdgasvorkommen zu entdecken.
Das war etwas völlig Neues. Anastasia konnte sich nichts darunter vorstellen. Gas, das aus der Erde kommt? Woher denn? Die Erde ist aus Erde, und die ganze Taiga wurzelt darin. Wenn da Gas wäre, müßten alle Bäume ja schweben?
Sie blickte den Popen an, aber dieser schien den Fremden ernst zu nehmen, auch das Gas. Oder tat er nur so, um den Fremden nicht zu reizen? Wußte man, wie die Herren aus der Stadt reagierten?
»Sie haben kein Quartier, Michail Sofronowitsch?« fragte Tigran und strich seinen Bart. Er war jetzt nicht mehr gesträubt, der Effekt war nicht mehr nötig. Man stand einem gebildeten Menschen gegenüber, das war jetzt geklärt. »Ich habe ein Zimmer in meinem Haus frei, wenn es nicht zu klein ist …«
»Es ist ein großes Zimmer!« rief Anastasia sofort. »Ich kenne es! Ein riesengroßes Zimmer! Ein Saal! Das größte Zimmer weit und breit – nehmen Sie es, Michail!«
Tassburg ging an das Fenster und blickte hinüber zu dem leeren Haus. Tigran und Anastasia wechselten einen Blick. Wir werden es schon regeln, sagten Tigrans Augen. Nur Ruhe, Ruhe, Anastasia! Ein Priester ist immer ein Fels!
»Sie will mir das Haus gegenüber nicht geben, obgleich es unbewohnt ist«, sagte Tassburg und drehte sich um. »Es wäre für meine Zwecke ideal …«
»Ich weiß es nicht.« Der Pope musterte Tassburg wie einen seiner Täuflinge. »Fänden Sie es ideal, wenn man Ihnen nachts die Kehle durchschneidet?«
»Ist das üblich in Satowka?« Tassburg lächelte schwach. »Sie haben rauhe Sitten hier, Tigran Rassulowitsch.«
»Es ist eine alte Geschichte, mein Sohn.« Der Pope setzte sich, auch Tassburg nahm wieder Platz, und Anastasia rannte zum Herd, brachte irdene Schüsseln und klatschte mit einer Blechkelle dicke Kascha hinein. Da das Priesterchen gern Süßes aß, stellte sie noch ein Glas mit gezuckerten Preiselbeeren auf den Tisch und verkroch sich dann auf den gemauerten Sitz neben dem Ofen. Was nun berichtet werden sollte, war nur zu ertragen, wenn man sich dauernd bekreuzigte. Ab und zu ist Gott wirklich ungerecht. Was konnte die Witwe Morosowskaja dazu, wenn vor 150 Jahren eine schöne, nach Sibirien verbannte Gräfin mitten im Urwald der Taiga noch an Sittsamkeit dachte? Ist das eines ewigen Fluches wert? Im Gegenteil, doch wohl mehr …
»Die Gräfin Albina Igorewna Borodawkina war vom Zaren zu zwanzig Jahren Sibirien verurteilt worden, weil sie ihren Mann mit einem Feuerhaken erschlug, als sie ihn bei ihrer Zofe im Bett vorfand«, begann Tigran Rassulowitsch und schüttete sich Preiselbeeren über die Kascha. Er verschlang schmatzend zwei volle Löffel und fuhr fort: »Danach zog die unglückliche Gräfin mit anderen Verbannten teils in der Kalesche, teils zu Fuß nach Sibirien. Die Führung des Transports hatte ein Hauptmann Alexander Anatolowitsch Kusmin übernommen, ein sehr strenger, gutgenährter, aber anscheinend nicht ganz klar denkender Offizier, der sich, nachdem er Batkit verlassen hatte, in den Wäldern verirrte. Dadurch entstand Satowka.«
Tigran aß während seiner Erzählung. Es schmeckte ihm sichtlich und hörbar, und er leerte wie üblich drei Schüsseln und das halbe Glas Preiselbeeren dazu. Anastasia freute sich. Was man einem Priester Gutes tut, wird bei Gott notiert. Ihr Konto mußte einen guten Stand haben, das Fegefeuer war schon bezahlt …
»Wie das so ist, Michail Sofronowitsch«, fuhr der Pope fort, »wenn man ein Haus gebaut hat, bleibt man meistens dort hängen. Die Verbannten und Soldaten gründeten unser Dorf, der Zar war weit, die Taiga und der Fluß ernährte jeden, und ein Feldscher war auch bei der Truppe, so daß man vor Krankheiten, faulen Zähnen oder Knochenbrüchen keine Angst zu haben brauchte. Außerdem waren vierunddreißig Frauen bei den Deportierten, die durchschnittlich zwei Männer in Zufriedenheit versetzten, ohne daß es zu Streitigkeiten kam.
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