"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
blühte in seiner sozialen Variante. Die westdeutsche Gesellschaft liberalisierte sich deutlich, nachdem Willy Brandt im Oktober 1969 zum Bundeskanzler gewählt worden war. Dennoch machten junge Menschen einen »Neuen Faschismus« aus und griffen zur Gewalt. »Menschengruppen revoltieren gegen das, was sie als Unterdrückung empfinden«, schrieb Norbert Elias, »nicht dann, wenn die Unterdrückung am stärksten ist, sondern gerade dann, wenn sie schwächer wird.« Die RAF war, so gesehen, ein Luxusphänomen.
Bundeskanzler Willy Brandt und BKA-Chef Horst Herold mit RAF-Bombe, 1972.
Die Terroristen überschätzten sich maßlos. Im Untergrund und in Hochsicherheitstrakten wie eine Sekte von der Gesellschaft isoliert, hielten sie sich zumindest für die wichtigste Gruppe der Linken. »Sie fühlten sich«, so einer ihrer ehemaligen Anwälte, »stets auf Augenhöhe mit Kanzler Helmut Schmidt.« Sie sahen sich in der Tat als gleichberechtigte Partei in dem Krieg, den sie vom Zaun gebrochen hatten. Dabei wussten sie, dass die große Mehrheit der Bürger ihren Feldzug nicht mittrug. Theoretisch stützten sie sich in der Tradition von Marx und Lenin auf das Proletariat, praktisch verachteten sie die Massen als korrumpierte Konsumidioten. Ihre Communiqués - der Ton »militärisch knapp, die Terminologie phrasenhaft, der Satzbau bürokratisch«, so Hans Magnus Enzensberger - ließen ahnen, wogegen sie kämpften. Wofür sie aber kämpften, welche Gesellschaftsordnung sie mit Gewalt durchsetzen wollten, das erklärten sie nicht. Sie wussten es selbst nicht genau.
Der angeblich faschistische Staat, seine kapitalistische Wirtschaft und die westliche Welt unter der Führung der USA verschmolzen für die RAF-Mitglieder zu einem mörderischen modernen Leviathan; zum »Schweinesystem«. Die Terroristen sahen ihre Feinde nicht mehr als Menschen an. Ab 1977 kalkulierten sie kaltherzig Morde an den Fahrern und Begleitern von Politikern und Wirtschaftsführern bei ihren Anschlagsplänen ein. »Das Ziel stand über den Mitteln«, hat Susanne Albrecht den moralischen Bankrott der Gruppe umschrieben. Sie mussten schon deshalb scheitern, weil sie mit unmenschlichen Mitteln eine menschlichere Gesellschaft erzwingen wollten. Die Mitglieder der RAF haben sich angemaßt, eine angeblich höhere Moral mit militärischen Mitteln zu vollstrecken. Sie unternahmen diesen Versuch gegen die Logik der Geschichte und gegen das Volk, auf das sie sich beriefen. Je isolierter und verhasster sie waren, umso mehr mutierten sie zu einer Killertruppe mit Genickschusstaktik.
Seine Klimax erreichte der Privatkrieg der RAF in den 44 Tagen der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer im Herbst 1977, die heute wie ein Alptraum anmuten. Eine nicht mehr als zwanzig junge Frauen und Männer starke, aber zu allem entschlossene Gruppe wollte der Regierung ihren Willen aufzwingen und brachte die Bundesrepublik an den Rand des Staatsnotstandes. Die RAF wurde zwar nicht für die Demokratie zur tödlichen Gefahr, aber für ihre führenden Vertreter. Die Steckbriefe mit den Bildern gesuchter Terroristen brannten sich in die kollektive Erinnerung der Westdeutschen ein, ebenso wie die düsteren Schwarz-Weiß-Fotos von zerschossenen oder von Bomben zerfetzten Limousinen. Sie sind die schwarzen Flecken auf der Erfolgsgeschichte der Bundsrepublik.
Am Tag, an dem alles anfing mit der RAF, am 14. Mai 1970, hatte die Schauspielerin Barbara Morawiecz, die in der Nähe des Zentralinstituts wohnte, einen Zettel ihrer Freundin Ulrike Meinhof an der Türe gefunden: »Wir kommen zum Frühstück, Anna.« Morawiecz hatte gerade den Kaffee gekocht, als neben Meinhof auch Baader, Ensslin, Goergens und der unglückselige Schütze die Treppe heraufkamen. Während Polizisten mit Schäferhunden auf der Suche nach Baader und seinen Konsorten durch die Vorgärten hetzten, nahmen die ein zweites Frühstück. 4
Morawiecz - als Schauspielerin mit dem Verkleiden vertraut - schnitt Baader die Haare. Auch den anderen half sie, ihr Äußeres zu verändern, bevor sie sie aus der Wohnung komplimentierte. Ulrike Meinhof hatte ihre Handtasche im Institut liegen lassen und hatte nun keinen Pfennig mehr. Ihre Freundin, die oft ihre Kinder betreute, musste für sie erst Geld bei der Bank abheben. Damit konnte die schusselige Journalistin sich einen Fahrschein für den Bus kaufen. Wieder zu Hause, verbrannte Morawiecz im Kachelofen die Papiere der Überraschungsgäste, darunter den
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