Naturgeschichte(n)
ein neues zu wachsen an, vergrößert sich, entwickelt sich und wird zu einem Gebilde, das vom Alter des Hirsches abhängt. Junge Hirsche fangen als » Spießer« an. Voll ausgewachsene bilden Kronen aus mehreren Zacken am Ende der beiden Geweihstangen aus. Im Alter von 9 bis 13 Jahren erreichen die Tiere meist den Höhepunkt ihrer Kraft. In diesem Lebensabschnitt wird ihr Geweih am größten und (vielleicht nicht nur nach unserer Ansicht) am eindrucksvollsten.
Mit weiter fortschreitendem Alter setzt der Hirsch zurück, wie es die Jäger ausdrücken. Sein Geweih wird wieder einfacher, weniger wuchtig und leichter. Je nach Region erreicht das Geweih eines Rothirsches auf dem Höhepunkt seiner Kraft zwischen zehn und gut 20 Kilogramm Gewicht. Elchgeweihe – Elche sind auch Hirsche – werden bis über 30 Kilogramm schwer. Das gewaltigste Geweih, das wir kennen, war das des eiszeitlichen Riesenhirsches mit bis zu 50 Kilogramm Gewicht.
Gebildet wird das Geweih aus einem Paar Stirnzapfen heraus von einer stark durchbluteten Haut, die an Samt erinnert und deswegen von den Jägern nicht » Samt«, sondern » Bast« genannt wird. Sobald dieser abstirbt, was gegen Ende des Hochsommers geschieht, ist das Geweih nichts mehr weiter als ein totes Gebilde. Die Hirsche entledigen sich der Bastfetzen durch » Fegen«, » forkeln« immer häufiger Büsche und junge Bäume, so als ob diese Gegner in einem Kampf wären, und sie werden nun ungesellig. Die ganze Zeit, in der das Geweih heranwuchs, hielten sie friedlich, Geweih an Geweih, in Männergruppen zusammen. Sie waren gleichsam Kameraden. Mit Beginn des Herbstes werden sie Gegner, die sich, wenn sie die volle Kraft erreicht haben, bis aufs Blut bekämpfen.
Das Geweih dient als Waffe in diesen Kämpfen, bei denen es darum geht, die Gunst der Weibchen eines Rudels zu erlangen. Die Verzweigungen der spitzen Geweihstangen, vor allem ihre Aufteilung in » Kronen« am Ende, gewährleisten einen wie es uns scheint fairen Kampf ohne schlimme Verletzungen.
Vorher, während der oft länger dauernden Kämpfe und auch danach, als Sieger, schreien Platzhirsch wie Herausforderer ihre Entschlossenheit mit aller Kraft den Gegnern zu: Die Hirsche röhren! Behauptet sich nach Tagen oder Wochen kräftezehrender Kämpfe ein Hirsch am Brunftplatz, so ist ihm das Rudel der nun wieder aufnahmebereiten Weibchen sicher. Er wird Vater aller Hirschkälber dieses Rudels im nächsten Jahr sein; fast aller zumindest, denn wenn sich eine attraktive Möglichkeit zum Fremdgehen für eine junge Hirschkuh bieten sollte, probiert sie’s aus.
Fast erübrigt es sich, festzustellen, dass das Geweih eben nicht nur » Schau« ist, sondern Bedeutung hat. Gegenüber den jüngeren Hirschen drückt es weithin sichtbar aus, wer hier das Sagen (das » Röhren«) hat und dass Zudringlichkeit mit schmerzhaften Schlägen geahndet wird. Ob Herausforderer mit ähnlich starkem Geweih vorab an kleinen Unterschieden sehen können, ob sich ein Kampf lohnen könnte, gilt als eher unwahrscheinlich, weil sie für das eigene Geweih zum Begutachten keinen Spiegel haben.
Begutachtung ist Sache der Hirschkühe. Die Herausforderung teilt der Hirsch lautstark mit seinem Röhren mit. Je tiefer der Ton, desto größer das Brustvolumen. Der tiefste Bass dürfte somit auch am meisten Luft im Kampf haben. Und die entscheidet, nicht das Geweih unmittelbar.
Selbstverständlich hören auch die Hirschkühe an der Stimme, ob der Herausforderer des Platzhirsches wirklich etwas zu sagen hat oder ob sich ein noch zu junger an sie heranmacht. Überhaupt liegt es an ihnen, sich für den Platzhirsch zu entscheiden. Und bei ihm zu bleiben. Kein noch so starker Hirsch könnte 20 , 30 oder mehr Hirschkühe zusammenhalten, wenn diese nicht bei ihm bleiben wollten. Er muss seinen » Harem« kraft seiner Anziehungskraft um sich geschart halten. Er muss überzeugen, bevor er zum Zeugen zugelassen wird. Am überzeugendsten sind seine Erfolge im Kampf mit den Gegnern, nicht die Schönheit seines Geweihs. Diese wird gleichsam vorausgesetzt. Sie darf variieren. Kaum ein Geweih eines reifen Hirsches gleicht dem anderen.
Die Jäger kennen und schätzen die individuelle Variation. Sie bewerten die Trophäen nach dem Gewicht, nach der Zahl der Spitzen ( 18 -Ender, 20 -Ender, gerade oder ungerade) und nach der Anlage, das heißt nach Länge der Stangen, ihrer Auslage und ihrer Symmetrie. Beim Abschuss und der nachfolgenden Bewertung wählen sie, die Jäger,
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