Nauraka - Volk der Tiefe
befand, und ob es aufwärts, seitwärts oder abwärts ging. Er konnte es nicht mehr feststellen.
Immerhin gehorchten ihm Arme und Beine endlich wieder. Die Koordination klappte zwar noch nicht so recht, noch dazu, weil es ziemlich kalt war, aber das spielte momentan keine besondere Rolle – er hatte sowieso völlig die Orientierung verloren.
Das lauerte also in der Tiefe: Kälte und Rausch. Der möglicherweise nie ein Ende fand. Kein Wunder, dass einstmals das Tabu gesetzt wurde! Nur, wer hatte es als Erster ausgerufen, und woher wusste derjenige, dass es keine Rückkehr mehr gab?
Mit diesen Fragen konnte Eri sich jedenfalls die nächsten Korallenstäbe über beschäftigen, während er hier einsam durch die stille Leere trieb. Sterben würde er wohl nicht so schnell, er fühlte sich jetzt bedeutend kräftiger als vorher, spürte die Nachwirkungen des Aufpralls gar nicht mehr. Nauraka waren außerdem sehr zäh, sie konnten lange ohne Nahrung auskommen, indem sie ihre Lebensfunktionen verlangsamten.
Plötzlich spürte Eri eine Erschütterung, als eine Welle gegen ihn schlug. Hier lebte also doch etwas! Schlagartig war er wieder nüchtern und wachsam. Sein Herzschlag dröhnte in der Stille. Was immer dort draußen in der Finsternis war, konnte ihn jetzt hören. Wahrscheinlich sah es den jungen Nauraka bei jedem Pochen wie einen Lichtpunkt aufglühen und wieder erlöschen.
Eri versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen, doch er war zu verwirrt, und alles wirbelte in seinem Kopf durcheinander. Hektisch drehte er sich, versuchte durch die Dunkelheit zu spähen. Doch er konnte nicht einmal sein eigenes Schimmern erkennen, wenn er den Arm vor sich hielt, es wurde von der Schwärze verschluckt.
Die nächste Welle drückte ihn beiseite. Und dann spürte Eri es deutlich. Die Anwesenheit eines anderen Geschöpfes, das … groß war. Viel, viel größer als der Urantereo. Es bewegte sich langsam an ihm vorbei, Welle um Welle. Eri zählte in Gedanken mit, wie viele Wellen er empfing, und wie lange es seinem Gespür nach dauerte, bis der Gigant vorbei war.
Ein Sandkorn. Zwei Sandkörner. Drei …
Zehn Sandkörner maßen etwa … nein. Nein, das war unmöglich. Und es hörte immer noch nicht auf. Bewegte sich träge seitwärts, wie ein Fisch, nicht wie ein Nauraka oder Seeschwärmer auf und ab. Welle, Sog. Welle, Sog. Es nahm kein Ende.
Eri war vor Entsetzen einer erneuten Ohnmacht nahe. Er war zwar sicher, dass dieses riesige Wesen nicht an ihm interessiert war, ihn vermutlich nicht einmal bemerkt hatte. Für dieses Geschöpf war er nicht größer als ein Sandfloh. Doch ihn verstörte die Unfassbarkeit eines solchen Ungetüms, das offensichtlich die Ausmaße eines Berges hatte. Wenn er sich nicht verrechnet hatte, war er bereits bei fünfzig Mannslängen angelangt.
Einundfünfzig …
Und dann, bei fünfundfünfzig, war endlich Schluss. Eri spürte nur noch eine leichte Welle, und dann entfernte sich das, was ihn wie eine schwere Last bedrückt hatte, und war schließlich verschwunden.
Der Prinz schlotterte am ganzen Leib. Er war sicher, dass diese Art Begegnung nicht die letzte sein würde – und dass er vermutlich noch gar nicht auf den größten Bewohner dieser Tiefe getroffen war.
Ich-ich-ich will zurück , dachte er panisch. Nach Hause, sofort, hier kann ich nicht bleiben. Ich kann zwar durch die Leere treiben, aber nicht durch … das hier. Lautlosigkeit, aber nicht leer. Das ertrage ich nicht …
Als hätte ihn jemand gehört, sah er auf einmal kleine Lichtpunkte.
Sie waren winzig, kamen aber rasch näher – und da sausten sie auch schon an ihm vorbei, flirrende, bunte Lichter mit heftigen Flossenschlägen, die der Spur des Giganten folgten. Sie besaßen riesige Augen, die gut ein Viertel ihrer Körpergröße ausmachten, ein weiteres Viertel nahm das weit geöffnete Maul mit langen, spitzen Zähnen in Anspruch, aber insgesamt waren sie nicht größer als eine geballte Faust. Immer mehr tauchten auf, formierten sich zu einer regelrechten Lichterwolke, die Eri in die Mitte nahmen und ohne langsamer zu werden links und rechts an ihm vorbeischwirrten. Kurz darauf wurden die Pünktchen schon wieder von der Finsternis verschluckt, und Eri war erneut allein. Aber er hatte sich gemerkt, wie die kleinen Fische geschwommen waren, wusste nun endlich die Richtung und entschloss sich jetzt, bis zum Ende zu tauchen. Irgendwo dort unten musste der Grund sein. Es gab keinen endlosen Abgrund. Entweder, er kam auf der
Weitere Kostenlose Bücher