Nauraka - Volk der Tiefe
Nauraka.«
Es gab genügend andere Dinge, die erforscht werden wollten, deswegen fiel Eri es leicht, das Tabu zu respektieren. Er begnügte sich damit, manchmal an den Rand des Abgrunds zu schwimmen, wo die dunkle Seite des Vulkans steil abfiel in die Finsternis, ohne dass man je den Grund sehen konnte. So erpicht darauf, herauszufinden, was in der Schwärze lauerte, war der Knabe nicht, und auch kein anderer Draufgänger seiner Altersgruppe. Natürlich kamen sie immer wieder gern hierher, um einen grusligen Schauder zu spüren, sich gegenseitig zu necken und mit Vermutungen, was dort unten lauerte, Angst einzujagen.
Dass er eines Tages die Grenze über den Graben unfreiwillig übertreten würde, hätte er nie gedacht. Wieder mal typisch – er hätte ja auch auf dem sicheren Sand landen können. Aber nein, er war nach dem Unfall auch noch in den Graben gesunken, und vermutlich hatte es niemand bemerkt. Sicher würden alle glauben, dass der Urantereo ihn vor seinem Tod noch gefressen hatte. Ob der Hochfürst öffentliche Trauer anordnen würde? Wahrscheinlich nicht. »Dein Vater wollte aus politischen Gründen unbedingt noch ein Mädchen«, hatte seine Mutter einmal zu ihm gesagt. »Wäre Lurdèa vor dir geboren worden, hätte es dich nie gegeben.« Das war also die Wahrheit. Eri hatte nie mit jemand anderem darüber gesprochen. Aber er verstand seither, weswegen sein Vater ihn nicht beachtete.
Eri versuchte erneut, seine Arme und Beine zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Seine Gliedmaßen waren von dem Aufprall immer noch wie taub, erst ganz langsam kehrte ein kribbelndes Gefühl zurück, doch er war noch nicht in der Lage, die Muskeln anzuspannen.
Das war also der Grund, weswegen kein Nauraka die Grenze überschreiten sollte. Es war so dunkel hier unten, dass selbst Eris scharfe Augen, denen normalerweise ein schwacher Lichtpunkt zur Sicht genügte, nichts mehr erkennen konnten. Schwärzer als der Vulkan, so kam es ihm vor, denn er konnte nicht einmal mehr dessen Umrisse ausmachen; und stiller als der Tod. Pures Grauen erfasste den jungen Mann. Nicht einmal bei Mhurins Tod hatte er sich so gefühlt. Bin ich taub? Blind? , fragte er sich panisch und überlegte, zaghaft hinauszurufen … aber wer weiß, was er damit anlockte! Hier unten mussten die Ungeheuer leben, von denen die Alten immer Schauermärchen erzählten, um die Kinder zu erschrecken. Lautlos, finster und tödlicher als alles andere. Es gab viele Geschichten von kühnen Helden, die für immer hier unten verschwanden.
Nein, Eri war nicht taub und blind, dessen war er nun sicher. Wenn er die Augen schloss, war es eine andere Finsternis als jene, sobald er die Lider und Nickhäute öffnete. Und er hörte das Blut in seinen Adern pochen, das seinen geschundenen Kopf wie eine Gasblase aufblies.
Es ging abwärts, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Der Druck nahm zu, er hatte Mühe, zu atmen. Das Rauschen in seinem Kopf wurde stärker. Eri geriet immer mehr in Panik, doch er war ein Gefangener seines nach wie vor von der Wucht des Aufpralls gelähmten Körpers. Erneut verlor er das Bewusstsein.
Dann war er wieder da. Wie lange er bewusstlos gewesen war, konnte Eri nicht einmal ahnen. Doch etwas hatte sich verändert. Der Druck war plötzlich fort, auch der Schmerz in seinem Kopf.
Jetzt war es wirklich still.
Lautlos.
Es war beängstigend und faszinierend zugleich. Eri hätte nie geglaubt, dass so etwas Absolutes möglich war. Mehr noch als die Finsternis, die ihn umgab. War dies noch das Meer, das er kannte?
Das Wasser war kalt und hatte einen seltsamen Geschmack. Alt, irgendwie, und doch auch … sehr frisch, sehr rein. Das Atmen fiel jetzt leichter … so sehr, dass Eri sich halbwegs berauscht fühlte, fast so wie damals, als er zum ersten Mal vergorenen Sandkürbis verkostet hatte. Dabei war das noch harmlos im Vergleich zur ausgepressten, verkochten, durch lange Lagerung vergorenen Seegurke. Lurion mochte das Gesöff lieben, Eri ekelte sich davor. Er hatte nichts gegen frisch filetierte Seegurke, aber so zubereitet …
Aber jetzt wäre mir das auch egal , dachte Eri vergnügt und kämpfte mit einem Schluckauf. Ssso wass Gutes wie hier habbich noch nnnie geschmeckt …
Dieses Wasser bot alles an Nahrung und Annehmlichkeiten, was man sich nur wünschen konnte, so schien es Eri. Da war auch die Finsternis nicht mehr gar so erschreckend, auch wenn er sich immer noch ziemlich beengt fühlte. Und er hätte schon gern gewusst, wo er sich
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